Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (20. Oktober 2002)
 

  Mal ehrlich, liebe Leser und Leserinnen: Haben sie schon mal versucht, einen ganzen Tag lang ehrlich zu sein? Also beim aufstehen dem Partner gesagt, dass sein Mund riecht, wie die Bio-Tonne, dem Kollegen, dass seine Witze ("kommen zwei Schwedinnen zum Arzt ...") ekliger sind als der Eintopf in der Kantine? Dem Gastgeber, dass sein Essen genauso geschmacklos wie seine Wohnung ist, und der Gastgeberin, dass sie besser C&A als Dolce und Gabbana tragen sollte, weil es bei ihrer Figur eh egal ist? Nichts als die Wahrheit - 24 Stunden lang. Das kann in der sozialen Isolation oder mit Gesichtsverletzungen enden. Man sollte deshalb Verständniss für die Regierung haben. Denn der Spruch "ehrlich währt am längsten" stammt aus einer Zeit, als die Steuererklärung noch in der Abgabe eines Fuders Heu bestand und Schummeln mit drakonischen Strafen wie Rädern, Teeren und Federn oder Ertränken geahndet wurde. Wenn aber alle Lügner unserer heutigen Gesellschaft ertränkt würden, käme es wegen der Aufstauungen von Politikern, Autohändlern und Werbefachleuten zu gefährllichen Überflutungen.

  
Dabei kann niemand behaupten, Rot-Grün hätte nie versucht, ehrlich zu sein. Bei vielen Wahlkampfveranstaltungen kam Hans Eichel gerade noch dazu, den Satz "Wir müssen alle den Gürtel ..." zu beginnen, als der Strom ausfiel oder ein Gewitter aufkam und die Leute ins Bierzelt flohen. Später wussten sie nicht mehr, was Eichel meinte: Lockern? Engerschnallen? Durch Hosenträger ersetzen? Es gab Volksfeste, da spielte plötzlich die Blaskapelle, als Schröder zur Staatsverschuldung sprach. Und immer wenn Fritz Kuhn im Fernsehen den Abbau von Steuervergünstigungen thematisierte, fiel ihm Friedrich Merz ins Wort. Danach war meist die Sendezeit abgelaufen. Jetzt endlich können die Koalitionäre ausreden und die Wahrheit sagen.

  Übrigens hat der Kanzler Schröder verstanden, dass
Wahrheit und Realität durchaus verschiedene Dinge sind Schon Goethe schrieb über seine Autobiografie: "Ich nannte das Buch Wahrheit und Dichtung, weil es sich durch höhere Tendenzen aus der Region einer niederen Realität erhebt." Der Jugendfreund Fritz Jacobi empfand das Buch "wahrer als die Wahrheit selbst". Rot-Grün steht in dieser Tradition: Wahrheit ist das, was im Kanzleramt wahrgenommen wird.

  Sie liebe Leser und Leserinnen, sollten auch zwischen Wahrheit und Realität trennen. Wahr ist, was der Kanzler sagt, die Realität steht dann auf der Gehaltsabrechnung, ehrlich.

 

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