Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (18. September 2005)
  

  Am besten, Sie lesen diese Spalte, wenn überhaupt, mit geschlossenen Augen. Denn am Wahlsonntag könnte jedes noch so harmlose Wort Ihre Entscheidung beeinflussen. Werbeexperten bestätigen das: Sie montieren das Bild eines Topfs mit Popcorn in einen Kinofilm. Zwar sahen die Besucher den Topf nicht, aber sie bekamen Hunger und kauften das Zeug. Wenn in dieser Spalte Begriffe wie Merkel, Steuer oder Entfernungspauschale versteckt würden, bekämen viele Leser Kopfschmerzen und würden nicht zur Wahl gehen.

  So fühlen sich selbst leichtlebige und sinnenfrohe Menschen wie Journalisten am Wahlsonntag von der Verantwortung niedergedrückt. Alle Porträts sind geschrieben, alle Wahlprogramme seziert. Ausgewrungen und erschöpft kuscheln sich die Redakteuere in ihre elektropneumatischen Sessel und lassen die Fingerknöchel knacken. Was noch schreiben? Das Memento ihrer Chefs gellten noch in ihren Ohren: "Schreib irgendwas, aber bloss nix Politisches!"

  Was ist unpolitisch? Erotik? Geht nicht, da wird sofort wieder die Frauenfrage angeschnitten oder das Machohafte in den Augenbrauen von Schröder. Wetter? Da haben wir sofort die Frage: "Bei welchem Wetter gehen welche Wähler zur Wahl?" Man sieht förmlich die Sozialdemokraten gegen den Sturm und Wetter ankämpfend ins Wahllokal strömen, wo sie ihre nassen Kunstlederjacken ausschütteln. Die Konserativen fahren geräuschlos in ihren geheizten Mittelklasseautos vor. Die Linken sitzen schon seit Stunden in der Kneipe und trinken auf den Untergang des Kapitalismus. Aber das ist schon wieder viel zu politisch.


  Dabei wäre es fazinierend, die grossen Wählerwanderschaften (siehe Bild) zu beobachten. Endlose Menschenzüge, die auf der Suche nach ihrer politischen Heimat durchs Land irren. An einem Tag verlockt vom Geist des Liberalismus, dann wieder die Solidarität der Werkstätigen entdeckend, landen sie irgendwann im Niemandsland zwischen zwei Autrobahnzubringern. Entscheidend ist, welche Partei am schnellsten ihre Ortsgruppe in Gang setzt, um die Wanderwähler mit heissem Kakao zu versorgen und zur Stimmabgabe zu nötigen.

  So wie die Wechselwähler lässt auch der Journalist seine Gedanken frei wandern. Sinniert über die Vorzüge der Rechten und Linken, Mittigen und Extremen. Später, wenn er in seinem Pneumatiksessel eingenickt ist, träumt er von seiner Karriere bei einem Magazin für Angelbedarf.

 

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