Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (05. Februar 2006)
  

  Eine Imbissbude im Industriegebiet einer Mittelstadt. Auf dem Grill glosen zwei Würste vor sich hin. Wurst Nummer Eins zündet sich nachdenklich eine Zigarette an. "Seit dem letzten Fleischskandal muss ich jedem Trottel von Veterinär meine Innereien vorzeigen. Erniedrigend!" Wurst Nummer Zwei wälzt sich gemächlich auf den Bauch. "Verdammte Hitze hier. Und ständig dieses Zwicken im Darm." Nummer Eins grinst: "Wird wohl der Fingernagel sein, den die polnische Aushilfe in der Fleischfabrik verloren hat." Nummer Zwei grimassiert säuerlich.

  Wir unterbrechen hier, um einen Blick auf das sensible Verhältnis zwischen Wurst und Mensch zu werfen. Würste gelten bei vielen Menschen als unbeholfen und tollpatschig, sind aber an und für sich weitgehend in unsere Gesellschaft integriert. Unmerklich haben sie im geistigen Leben der Republik wichtige Funktionen erobert. Viele Intendanten und Kulturpolitiker sind Würste, bei Schauspielern und Journalisten ist es in den vergangenen Jahren geradezu Mode geworden, sich in der Öffentlichkeit mit einer jungen Wurst zu zeigen.

  Die jüngsten Skandale aber haben den Blick für das Schicksal jener heranwachsenden Würste geschärft, die nicht zur Kultur- und Politschickeria gehören. Viele von ihnen kommen aus Problemfamilien und haben kaum Zugang zum klassischen Bildungskanon. Sie werden, noch nicht einmal volljährig, mit allergieauslösenden und fetthaltigen Substanzen voll gestopft und müssen anschliessend ihr Glück in Imissstuben und Garküchen suchen. Von skrupellosen Subunternehmen ausgebeutet, finden sich viele nach kurzer Zeit faltig und grau in den Wärmestuben der Caritas wieder.



  Gott, diese Hitze! Wurst Nummer Eins platzt auf. Eine gelbliche, zähe Masse quillt hervor. Nummer Zwei angewidert: "Gott, du siehst aus wie ein Schwein." Nummer Eins: "Ich, ein Schwein? DIe Zeiten sind vorbei. Ich kenne Schweine nur noch aus dem Fernsehen."

  Wurstpolitische Sprecher mehrer Fraktionen machen vor allem die EU-Osterweiterung für die Misere verantwortlich. Ostwürste seien fettreicher und leidensfähiger als deutsche Altersgenossen. Die Wirtschaft hat dieses Potenzial längst erkannt. Mit denen müsse man nicht über jeden Bissen diskutieren, meint ein Mittelständler uns gegenüber. Die junge deutsche Wurst sieht sich um ihre Zukunft gebracht. Aber was hilft's, klagen Experten: Solange der Verbraucher billige Importwürste verzehrt, werde sich an diesem Trend nichts ändern. Die Politik will jetzt handeln: Schlanke, gut ausgebildete und flexiblere Würste sollen produziert werden, die auf globalen Märkten bestehen könnten.

  Früher Abend. Der Wursthäcksler läuft auf Hochtouren. Wurst Nummer Zwei sieht betroffen, wie ihr Bauch in zwölf gleich starke Stücke unterteilt wird. Ein nach Curry stinkender brauner Niederschlag nimmt ihr den Atem. "Zwei Schnaps", ruft jemand. Dann verschwindet sie unter einem Lavastrom aus roter Sauce.

  Trotz aller Skandale hat der Konsum von Wurst in Deutschland so zugenommen, dass viele Menschen von Würsten kaum noch zu unterscheiden sind. Die Medizin spricht von Botulismus, nach dem lateinischen Wort "Botulus" für "Wurst". Wer seinen Partner verdächtigt, eine Wurst zu sein, solte ihn kurz in kochendes Wasser werfen. Zeigt der betreffende Anzeichen von Schmerz, war der Verdacht berechtigt.

  Wurst Nummer Eins drückt ihre Zigarette aus. "Tja, ich glaube, ich muss dann auch mal." Aus einem bräunlich verkrusteten Spender tropft Senf auf sie herab. Sie nähert sich dem Gesicht eines dicken Mannes, in dessen Bartstoppeln Brotkrümmel kleben. Nummer Eins schreit kurz auf und verschwindet. Stille.

 

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