Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (24. Dezember 2006)
  

  Es passiert ja am Heiligen Abend (siehe Bild) vieles, was dem aufgeklärten Menschen der Postmoderne, dem Sklaven der Globalisierung rätselhaft, ja unheimlich erscheint, ihn zugleich aber in eine heimelige, gemütsschunkelnde, mitunter gar beseelte Stimmung versetzt. Er legt eine CD mit den grössten Hits aller Bach'scher Sakralwerke auf, vernimmt den Befehl "Jauchzet, frohlocket" und tatsächlich dröhnt alsbald ein allgemeines Jauchzen und Frohlocken an sein Ohr, das aus den Spielkonsolen seiner Kinder dringt. Er blickt nach draussen und sieht den bläulich schimmernden Stern von Bethlehem über der örtlichen Karstadtfiliale. Er sieht staunend, wie seine Kinder ihre auf die Hüften gesunkenen Hosen hochziehen und auf einem Digitalkeyboard "Tochter Zion freue dich" intonieren. Er blickt in die Küche und findet seine Frau nach all den Jahren mindestens so attraktiv wie die gefüllte Gans im Ofen. Er denkt an seinen Chef und beschliesst, im nächsten Jahr keine Zigaretten mehr im Topf von dessen Büropflanzen auszudrücken.

  Für all diese emotionellen Untiefen ist die Liebe verantwortlich, die am Heiligen Abend mit Hochdruck durch die Wohnstuben dampft. Neid und Missgunst müssen draussen bleiben und wandern als feuchte Schlieren die Fenster hinab. Die Liebe! Streng genommen ist sie ja nichts anderes als ein erhöhter Ausstoss endogener Opiate des Hypophysenzwischenlappens. Doch am Heiligen Abend reicht die Saugfähigkeit dieses Lappens meist nicht aus, um die Tränen der Rührung und den Angstschweiss aufzuwischen, der angesichts der Feuergefahr durch die zundeltrockene Tannenbäume entsteht.



  Die Geschichte vom Kind in der Krippe tut ein Übriges, wobei von Nachwachsenden mitunter gefragt wird, warum man Kinder damals in Krippen gelegt hat, statt sie dagegen zu impfen. Eltern erklären geduldig die historischen Hintergründe, ermahnen ihre Kinder zur objektlosen, kommerzfreien Menschenliebe, während sie darüber nachdenken, ob sie das Weihnachtsgeld lieber für die Anzahlung eines Geländewagens oder für einen Wellnessurlaub nutzen sollten. Die Kinder ignorieren diese Einlassungen herzlich und beweisen damit die Theorie des Soziologen Luhmann, demzufolge Liebe in der heutigen funktional ausdiffernzierten Gesellschaft als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium funktioniert, das unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlich machen soll. Diese Kommunikation mündet in hitzigen Wortgefechten und Blähungen, sobald der Pegel an Lebkuchen-Pheromonen und der Konsum von Gänzeschmalz nachgelassen hat.

  Dennoch: Auf Liebe will an Weihnachten niemand verzichten, schon gar nicht unsere Redaktion. Wir haben diese Ausgabe deshalb in Endorphin getränkt, dem klassischen Botenstoff der Liebe. Wer zehn Minuten daran schnuppert, dürfte auch den Heiligen Abend git überstehen.
  

 

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