Unmittelbar vor dem Heiligen
Abend muss an dieser Stelle über die Gans gesprochen werden.
Nur noch wenige Stunden oder Tage, dann wird sie in einem ritualisierten
Prozess vollgestopft und anschliessend verzehrt werden. Warum
das alles? Aus Hunger? Aus Hass auf Geflügel? Aber warum sollte
man die Gans hassen? In Polen gilt das Tier als Symbol ehelicher
Treue, in Indien als Verkörperung von Weisheit und Reinheit,
weswegen wichtige indische Gelehrte des Altertums und der Neuzeit
oft lobend als "Gans" (hamsa) oder "Grossgans"
(Mahahamsa) bezeichnet werden.In der Weihnachtsgeschichte ist
davon die Rede, dass gans Rom, also das gesamte Imperium,
sich zählen lassen sollte, wodurch es erst zu der bekannten
Geschichte mit Stern, Krippe, Kind, Nutztieren und so weiter
kam.
Nein, was Mutter Gans zum
Mittelpunkt eines pantagruelischen Fressrituals macht, ist ihr
gewaltiger Hohlkörper. Sie hat den Schwan verdrängt, für
den sich in der mitteleuropäischen Küche kaum noch Rezepte finden.
Zumal er durch sein Habitat in städtischen Ziertümpeln bereits
mit Weissbrot und alten Keksen gefüllt ist, die ihm Passanten
zugeworfen haben. In einer Weihnachtsgans dagegen ist immer
Platz für Erinnerungen und für liebe Freunde. Gerade während
der Feiertage kommt es oft zu bewegenden Szenen, wenn sich im
Innern des Tiers Verwandte treffen, die sich, weil beruflich
im Ausland, längst aus den Augen verloren haben.
Dennoch
muss vor Risiken beim Verzehr von Gänsen gewarnt werden. Einer
Meldung des baden-württembergischen Landwirtschaftsministeriums
zufolge mischen sich immer öfter Bakterien wie Salmonellen
oder Cambylobacter ("gekrümmte bis spiralige, zumeist
bewegliche Stäbchenbakterien") unter die Gäste weihnachtlicher
Familienfeiern. Sie trotzen der Hitze des Backofens, trinken
zu viel, erzählen unanständige Witze und gehen keinem Familienzwist
aus dem Weg. Bei ihren Angehörigen kommt es dadurch oft zu Übelkeit
und Erbrechen. Wenn Sie im Inneren Ihrer Weihnachtsgans also
einige Stationen der Weihnachtsgeschichte nachbauen wollen,
lieber Leser, achten Sie bitte darauf, dass sich keine Stäbchenbakterien,
als Schäfchen oder Hirten verkleidet, darunter mischen.

Dennoch:
Der Mensch sucht gerade an Weihnachten nach Erfüllung
und hat sich die Gans als Erfüllungsgehilfin herangezüchtet.
In sie stopfte er alle Träume, Hoffnungen und Zärtlichkeiten,
die ihm im wirklichen Leben abhanden gekommen sind. Am Ende,
also am zweiten Weihnachtsfeiertag, kriechen viele Menschen
selbst in die Gans zurück und blicken sorgenvoll in das neue
Jahr hinüber. Jeder Laienpsychologe deutet diesen Vorgang zu
Recht als sublimierte Geburt, als Sehnsucht nach der warmen
Höhle des Mutterleibs.
Und tatsächlich:
Drinnen ist es schöner. Drinnen gibt es nach der Bescherung
Backpflaumen, Einkaufsgutscheine, Dessous oder französischen
Kognak. Draussen bleiben der Klimawandel, die Bildungskatastrophe
und das Feiertagsfernsehen. So sitzt der Mensch und denkt sich
die Welt als Wille und Vorstellung, kurz als eine einzige gefüllte
Gans. |