Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (23. Dezember 2007)
  

   Unmittelbar vor dem Heiligen Abend muss an dieser Stelle über die Gans gesprochen werden. Nur noch wenige Stunden oder Tage, dann wird sie in einem ritualisierten Prozess vollgestopft und anschliessend verzehrt werden. Warum das alles? Aus Hunger? Aus Hass auf Geflügel? Aber warum sollte man die Gans hassen? In Polen gilt das Tier als Symbol ehelicher Treue, in Indien als Verkörperung von Weisheit und Reinheit, weswegen wichtige indische Gelehrte des Altertums und der Neuzeit oft lobend als "Gans" (hamsa) oder "Grossgans" (Mahahamsa) bezeichnet werden.In der Weihnachtsgeschichte ist davon die Rede, dass gans Rom, also das gesamte Imperium, sich zählen lassen sollte, wodurch es erst zu der bekannten Geschichte mit Stern, Krippe, Kind, Nutztieren und so weiter kam.

   Nein, was Mutter Gans zum Mittelpunkt eines pantagruelischen Fressrituals macht, ist ihr gewaltiger Hohlkörper. Sie hat den Schwan verdrängt, für den sich in der mitteleuropäischen Küche kaum noch Rezepte finden. Zumal er durch sein Habitat in städtischen Ziertümpeln bereits mit Weissbrot und alten Keksen gefüllt ist, die ihm Passanten zugeworfen haben. In einer Weihnachtsgans dagegen ist immer Platz für Erinnerungen und für liebe Freunde. Gerade während der Feiertage kommt es oft zu bewegenden Szenen, wenn sich im Innern des Tiers Verwandte treffen, die sich, weil beruflich im Ausland, längst aus den Augen verloren haben.

   Dennoch muss vor Risiken beim Verzehr von Gänsen gewarnt werden. Einer Meldung des baden-württembergischen Landwirtschaftsministeriums zufolge mischen sich immer öfter Bakterien wie Salmonellen oder Cambylobacter ("gekrümmte bis spiralige, zumeist bewegliche Stäbchenbakterien") unter die Gäste weihnachtlicher Familienfeiern. Sie trotzen der Hitze des Backofens, trinken zu viel, erzählen unanständige Witze und gehen keinem Familienzwist aus dem Weg. Bei ihren Angehörigen kommt es dadurch oft zu Übelkeit und Erbrechen. Wenn Sie im Inneren Ihrer Weihnachtsgans also einige Stationen der Weihnachtsgeschichte nachbauen wollen, lieber Leser, achten Sie bitte darauf, dass sich keine Stäbchenbakterien, als Schäfchen oder Hirten verkleidet, darunter mischen.



   Dennoch: Der Mensch sucht gerade an Weihnachten nach Erfüllung und hat sich die Gans als Erfüllungsgehilfin herangezüchtet. In sie stopfte er alle Träume, Hoffnungen und Zärtlichkeiten, die ihm im wirklichen Leben abhanden gekommen sind. Am Ende, also am zweiten Weihnachtsfeiertag, kriechen viele Menschen selbst in die Gans zurück und blicken sorgenvoll in das neue Jahr hinüber. Jeder Laienpsychologe deutet diesen Vorgang zu Recht als sublimierte Geburt, als Sehnsucht nach der warmen Höhle des Mutterleibs.

   Und tatsächlich: Drinnen ist es schöner. Drinnen gibt es nach der Bescherung Backpflaumen, Einkaufsgutscheine, Dessous oder französischen Kognak. Draussen bleiben der Klimawandel, die Bildungskatastrophe und das Feiertagsfernsehen. So sitzt der Mensch und denkt sich die Welt als Wille und Vorstellung, kurz als eine einzige gefüllte Gans.
 

 

Zurück