Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (13. April 2008)
 

   Mailand, die alte Schönheit in der Poebene, hat schon manchen Sturm überstanden. Sie hat berühmte Söhne wie Adriano Celentano und den Karatemeister Carlo Fugazza hervorgebracht und gelassen zugeschaut, wie Mussolini zu seinem Marsch aus Rom aufbrach. Seit dieser Woche aber liegt sie im Schatten eines schroff aufragenden Gebirges.

   Nun enstehen auch in Italien gewaltige Gebirge nicht über Nacht, sondern sind eigentlich schon immer da gewesen. Auch der
erratische Fels, der die Metropole beschattete, war keine Laune der Natur, sondern setzt sich aus Koffern zusammen, die vom britischen Flughafen Heathrow nach Mailand transportiert wurden (siehe Bild). In London wusste man nicht mehr, wohin mit ihnen, nachdem die Gepäckbänder des neu eingeweihten Terminals 5 sie gemäss eines ausgekügelten Systems geschluckt, verdaut und an entlegenen Orten des Airports ausgeschieden hatte. Die Flughafenmanager staunten über den gewaltigen Appetit der Anlage, der die kühnsten Erwartungen übertraf, schichteten Koffer zu Pyramiden und lustigen Türmen und hielten erst inne, als sich die Gepäcklawine auf die geschäftige Londoner Innenstadt zuwälzte. Flugs erinnerte man sich an die sprichwörtliche Präzision der italienische Post beim Briefsortieren und schickte alles auffindbare Gepäck nach Mailand.



   Dort wird jetzt das Koffergebirge abgetragen. Den damit befassten italienischen Spezialisten bieten sich faszinierende Einblicke: Jener Rucksack, übersät mit toten Fliegen - gehört er einem jungen Weltreisenden, der seine letzte saubere Leibwäsche in Thailand gegen ein Reisgericht eintauschte? Und die
Luxustasche, aus der ein weisses Pulver rieselt - wurde sie von jenem Supermodel vergessen, das seiner Beschwerde über den schlechten Service mit einer Nagelschere Nachdruck verlieh? Der Koffer mit den hochmütigen Krawatten und der Klinikpackung Beruhigungspillen - wird er bereits von einem Investmentbanker vermisst?

   Der Mailänder Kofferberg gleicht dem Aufstand des Prekariats. Über Jahrhunderte mussten selbst die edelsten Gepäckstücke ihren Besitzern folgen, wurden mit Füssen herumgekickt und von Niedriglöhnern respektlos auf Transportwagen geworfen. Sie schluckten hässliche Souverniers und anrüchige Unterhosen, fügten sich klaglos der plan- und atemlosen Raserei ihrer Gebieter. Das ist nun vorbei. Seit in Heathrow das modernste Terminal der Welt eingeweiht wurde, gibt es einen Pardigmenwechsel der modernen Reisekultur:
Die Reisenden folgen jetzt ihren Koffern.

   Ohne Ballast machen sie sich auf den Weg über die Alpen, übernachten in einfachen Herbergen und
schlucken den Staub von Strassen, über die sie noch vor kurzem arrogant mit dem Flieger hinwegdonnerten. Sie blicken in den Lokalen wehmütig auf ihre längst wertlosen Bordkarten und tauschen elektronische Terminkalender gegen Einlegesohlen ein. Irgendwann werden sie ihre Koffer begrüssen wie alte Freunde. Doch es wird nie mehr so sein wie früher.

   In Heathrow herrscht derzeit Ruhe. Von den Mechanikern, die sich in den Verdaungstrakt der Förderanlage begeben haben, fehlt jede Spur. Bestimmt sehen wir sie in Mailand wieder.
 

 

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