Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (16. November 2008)
 

   Kaum ein anderes Kleinsäugetier hat über Jahrzehnte eine so grosse Bedeutung für den Menschen erlangt wie das Meerschweinchen. Gerade in unserer hoch technisierten, kühlen Zeit stellen die knuffigen Nager ein wichtiges Bindeglied zwischen Natur, Technik - und Kinderzimmer dar.

   Allerdings hat es lange gedauert, bis die wahren Bedürfnisse der süssen Grunzer allgemein bekannt wurden. Früher wurde das aus Südamerika stammende Cavia aperea gerne als handlicher Einweg-Wischmop (saugstark, aber laut), als biologische Wurf- und Knabberwaffe im Volkssturm (willig, aber weich) soie als saftiger, von Grillfreunden sehr geschätzter Fleischklops (Schwäbisch Hällisches Meerschwein, aber klein) missbraucht.

   Sein psychosozialen Kompetenzen wurden erst spät erkannt und zunächst vor allen in kinderreichen konserativen Haushalten eingesetzt. Fortan beschäftigten sich Millionen deutscher Streber und Stubenhocker zwwischen sieben und zwölf Jahren mit der Zucht und Hege der possierlichen Tiere - zur Freude überforderter Eltern und Zoohändler. Gemeinsames Spielen, Koten, Kuscheln und Lernen, alles kein Problem. Die wuseligen Purzel (siehe Bild) entpuppten sich als kenntnisreiche Leseratten (Isabel Allende, Carlos Fuentes), sie betreuten Hausaufgaben, liessen sich zu Elternbeiräten wählen und verwalteten die Reistafelbestände in migrationsfernen Familien. Alleinerziehende Mütter und Väter hatten einen verlässlichen Partner in allen Erziehungsfragen. Man knüpfte sogar des Öfteren amouröse Kontakte, nachdem das zufriedene Kind abends ins Bett gebracht wurde. Die Zukunft unserer Kinder schien bis auf Weiteres gesichert.



   Doch in dieser Woche gingen Zigtausende Meerschweinchen auf die Strassen deutscher Grossstädte. Vereinzelt gesellten sich gewaltbereite Goldhamster hinzu und lieferten sich Strassenschlachhten mit den Ordnungskräften. Offenbar hatten sie die Backen endgültig voll und schwänzten kollektiv die morgendliche Fütterung. Ein riesiger, streng riechender Fellteppich wogte aber meist friedlich durch die Häuserschluchten und demonstrierte für grössere Schulklassen, für den Erhalt des dreigliedrigen Schulsystems und - mehr Kindheit.

   "In den Kinderzimmern herrscht ein unsäglicher Druck", klagte ein geschlechtsreifes Rosettenmeerschweinchen bei der Demonstration auf dem Stuttgarter Marktplatz. Sein Kind - ein autistischer Grundschüler aus dem Schwarzwald - bekäme es überhaupt nicht mehr zu Gesicht. "Die Kinder denken  nur noch an eines: Chatten und Karriere. Das sind doch verkorkste Erwachsene. Lebendige Prepaid-Karten!" Ein aus Ulm angereistes Teddymeerschweinchen sieht die Ursache für das Verschwinden der Kindheit in der elitären, unbewussten Forderung der Eltern und der Gesellschaft, ihre Kinder müssten alle aufs Gymnasium. "Abi für alle? Quatsch. Als würden mehr Lehrer und kleinere Klassen automatisch mehr Leistung bringen."

   Kritik kam von der Gewerkschaft Käfighaltung und Wissenschaft, die in dem Streik nur ein vorgeschütztes Interesse am Wohl der Kinder sieht. "Diese Schweine fürchten doch den sozialen Abstieg au der Mittelschicht", so ein Sprecher. Aktuelle Arebitsmarktzahlen belegen das: Immer mehr Meerschweinchen verdingen sich inzwischen als Ohrenschützer, Fellmützen und Boxer-Suspensorien.
 

 

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