Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (08. Februar 2009)
 

   Frühmorgens in einem Berliner Villenvorort. Ein kleiner, kräftiger Mann, er ist von Beruf Konzernchef, beginnt seinen Tag mit einem Blick in den Monitor, der die ganze Nacht auf seine Füsse gerichtet war und jede  nächliche Bewegung der Zehen aufzeichnete. "Verdammte Biester! Habt euch wieder bewegt, ohne mich zu informieren", murmelte er missmutig. Ein zweiter Bildschirm zeigt seine Frau beim Kaffeemachen. Alles wie immer. Trotzdem zoomt er die Kamera näher an die vertraute Silhouette heran. Man kann ja nie wissen.

   Später, beim Frühstück (Eier aus videokontrollierter Bodenhaltung) wirft er einen flüchtigen Blick über die Aufzeichnungen der vergangenen Nacht: "Tochter trifft gegen 23:30 Uhr ein, ermittelter Blutalkoholwert 0,4 Promille, Nachbarin duscht gegen 22 Uhr - alleine." Nachdem er drei mobile Kameras vorgeschickt hat, betritt er die in gleissendes Licht getauchte Tiefgarage. Dort wartet sein Chauffeur, der durch jahrelange Überprüfungen bereits vollkommen durchsichtig ist. In rascher Fahrt geht es zur Konzernzentrale. Ein gläserner Aufzug bringt den Konzernchef in den 123. Stock. Er begrüsst einen Sekretariatsroboter, dessen digitale DNA täglich mehrfach gecheckt wwird, und lässt sich per Direktschaltung mit allen laufenden ICE-Zügen verbinden. Wird hier ein Wort zuviel geredet? Verschiebt ein Schaffner das Kinderabteil gegen Bares? Hat das Rührei im Bistro die nötige Konsistenz aus Schmelz und Glibber? Irgendjemand während der Arbeitszeit in der Bordtoilette? Alles scheint normal. "Gut, gut", murmelt der Konzernchef. "Und wenn doch, ich kriege euch alle."

   Sein Arbeitstag endet selten vor 23 Uhr. Millionen Richtmikrofone liefern entlarvende Töne aus Zügen in den entlegensten Provinzbahnhöfen. Aber bei Gott! Es sind 220 000 Mitarbeiter. Jeder davon ein potenzieller Dieb, Unruhestifter, Arbeitszeitfälscher, Schienenverbieger. "Wie soll ich das schaffen?", murmelt der Konzernchef melancholisch. "Und wer dankt die Mühe? Als ob es mir Spass machen würde, täglich hunderttausend Kontonummern durchzusehen." Und aufschreiben darf man nichts, weil die Gefahr besteht, dass irgendein Gewerkschafter oder ein Journalistenschnüffler den Schreibtisch durchwühlt und dann alles an die grosse Glocke hängt. "Verdammter Datenschutz." Aber er hat vorgesorgt. Ein mächtiger USB-Stick wurde diskret unter die Kopfhaut implantiert. Ein teures Zweithaar-Arrangement verdeckt die verräterische Ausbuchtung. Er streichelt gedankenverloren darüber. "Da ist alles drin. Und wenn mich diese politische Wichte in Berlin fallen lassen sollten - dann ... Meine Kameras reichen bis in das Verkehrsministerium." An alles ist gedacht.



   Dennoch fühlt er sich unwwohl, kommt sich beobachtet vor. Die Jalousien aus Blei sind längst heruntergelassen - kein fremdes Videoauge kann in sein Büro spähen. "Aber wer weiss, was die da drüben bei der Telekom für Methoden haben," denkt er sorgenvoll. Immer mehr Überwachungsdaten aus anderen Unternehmen verdrecken seine Ermittlungen. Ein einziger Brei aus Korruption, Lüge und Scheinheiligkeit. "Nun ja, so kennt man wenigstens die Leichen im Keller der anderen", schmunzelt der Konzernchef. "Wer weiss, wozu's gut ist." Aber dieser Aschenbecher auf dem Beistelltisch ... Stand der nicht gestern an einer anderen Stelle? Wenn da jetzt ein Mikrofon darunter ... Er wirft ihn rasch aus dem Fenster, dann fällt sein Blick auf die Vase mit frischen Lilien, die seine Sekretärin jeden Tag ins Büro stellt. Warum schauen die mich so an? Als hörten sie mir zu, könnten gar meine Gedanken lesen. Ihr Luder! Er schneidet die Stängel mit einer Papierschere durch und sinkt seufzend in den Sessel.

   Feierabend, Der Blackberry meldet den Geburtstag seiner Frau. Ein Geschenk! Dank jahrelanger Überprüfung weiss er um ihre Vorlieben. "Tja, für die anderen tust du alles", denkt er. "Aber wie steht's um dich selbst? Solltest du nicht mal etwas ganz anderes machen? Aber was? Man bräuchte irgendeine Idee? Wozu habe ich eigentlich sieben Privatdetektive, ein Dutzend Datenschnüffler und einen Emo-Scanner auf mich selbst angesetzt? Warum kommt da nichts? Sollte etwa ...? Gar nichts drin sein? Keine Gefühle, Sehnsüchte?" Der Mann beginnt leise zu weinen und trocknet sich mit dem Kontoauszug des Mitarbeiters 134 972 (siehe Bild) die Augen. Dann lässt er sich nach Hause fahren.
 

 

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