Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (15. November 2009)
 

   Schwindel! Erschöpfung! Kontrollverlust, konvulsives Zucken. Immer wieder diese Mauer (siehe Bild), sächselndes Genuschel unter Tränen, Windjacken, Sekt, Feuerwerk, Fetzen der Nationalhymne. Schluss. Wir können nicht mehr. Und doch - die Pflicht der Medien ist es, auch die allerletzten Zeitzeugen des Mauerfalls zu Wort kommen zu lassen, ob sie nun dabei waren oder nicht. Wir unterwerfen uns dieser Pflicht und tauchen ein in die Abgründe der Oral History. Doch hören Sie selbst:

   Umberto Eco: Jetzt bitte keine Hektik. Natürlich muss die Mauer wieder aufgebaut werden, aber bitte unter Berücksichtigung kunsthistorischer Erfordernisse. Wir haben es mit einem äusserst fragilen Bauwerk der zweiten spätsozialistischen Fertigbetonepoche zu tun. Allein die Fresken im Abschnitt Probstzella/Sonneberg zu restaurieren, dürfte Jahrzehnte dauern. In jedem Fall gilt: Die Mauer entspricht in seltener Reinheit meinem Konzept von Offenheit als Chiffre für die Beteiligung des Rezipienten an der Generierung des Kunstwerks. Das ist die zentrale ästhetische Kategorie der modernen Kunst. Es ist doch so: Moderne Kunstwerke transportieren keinen eindeutigen Sinn, der vom Rezipienten lediglich passiv aufgenommen wird, sondern ... Langweile ich Sie?

   Joop: In meinem Fernseher aus mundgeblasenen Muranoglas sah ich ddie Ereignisse. Die marmorierten Jeans der Ostler haben mich so deprimiert, dass ich einen Gallenstein bekam. Er kann im Züricher Museum für Gestaltung besichtigt werden.


   Günther Öttinger: Ich hatte eine Sitzung bei meiner Logopädin. Als ich gehört habe, wie langsam die Ossis sprechen, wusste ich: Die Einheit wird uns allen im Halse stecken bleiben.

   Harald Wohlfahrt: Ich applizierte gerade eine Demi Glace an einem Dialog aus frisch aufgeschlagenen Wachtelhoden, da fiel mir vor Schreck die für den als Nachtisch vorgesehene geschmorte südafrikanische Tafelbirne aus der Hand. Was haben diese Ostdeutschen all die Jahre nur in sich reingefressen! Sofort nach dem Fall der Mauer nahm ich Lachs-Todesstreifen auf die Karte und stellte sogar einen sächsischen Azubi ein, der sich aber als faule Riesenbockwurst erwies.

   Roland Emmerich: Jetzt kann ich's ja sagen: Zum 40. Jubiläum jagen wir das Ding in die Luft. Arbeitstitel: Hard broiled Armageddon. Wird eine Heidenarbeit, alles im Osten noch mal mausgrau anzustreichen. Die Handlung: Aus dem streng abgesicherten Labor für den modernen Sozialismus ergiesst sich durch eine Panne in der Abschirmung ein Strom von Mutanten in den Rest der Welt, der alles Leben erstickt. Wird es dem arbeitslosen Gas-Wasser-Installateur Gottfried gelingen, die Erdkrustenverschiebung mit einer kontrollierten nuklearen ... und so weiter.

   Josef Stalin: Habe mich dreimal im Grab rumgedreht, als ich diese schäbigen Konterrevolutionäre sah. Aber täuscht euch nicht - ich kann warten ...

   Johannes Heesters: Ich erinnere mich genau an den 9. November. WIr feierten meinen 105. Geburtstag - oder war's der 88ste? Ich bekam davon nichts mit, weil mein Hörgerät in die Suppe gefallen war. Dann sah ich die Schlange vor der Bornholmer Brücke und sagte zu Simone: Da müssen wir hin! Sie ging dann auch bis zum Gartentor mit. Was dann passierte, habe ich vergessen. Aber schön war's doch - wenn das der Führer noch erlebt hätte!

   Helmut Schmidt: Habe Honecker schon vor 20 Jahren alles vorausgesagt und ihm geraten, als Dachdecker keine Mauern zu bauen. Hätte er mal auf mich gehört. Apropos: Kann man aus den entvölkerten Regionen im Osten jetzt nicht Raucherzonen machen?

   Horst-Eberhard Richter: Mauern sind immer Merkmale faschistischer Gefügigkeitstendenzen. Wenn die drüben meine Bücher gelesen hätten und alle Stasi-Leute zu mir in die Familientherapie geschickt hätten, wäre Hohenschönhausen ein Refugium des Lichts und der Körperwärme geworden. Aber so ist es auch ganz schön.

   Und? Fühlen Sie sich erschöpft, wackeln mit dem Kopf und haben Ohrensausen? Sie meinen, es sei Zeit, dieses Kapitel der Geschichte zu schliessen. Na gut.
 

 

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