Neulich in den Schlussminuten
eines Pokalspiels irgendwo im Brandenburgischen. Zwei kahl rasierte
Anhänger der verlierenden Heimmannschaft stehen auf der Tribüne.
Fragt der eine, in eine Bratwurst beissend: "Wie beurteilst
du eigentlich die Qualität unserer zeitgenössischen Literatur?"
Antwortet der andere, mit Schaum vor dem Mund: "Mit Verlaub,
vom Hang zum Kanonisieren bei unserer bürgerlichen Kritik halte
ich herzlich wenig. Für einen Poststrukturalisten wie mich bedeutet
'Lektüre' stets das Nachzeichnen eines zarten Textgewebes, bei
dem es letztlich nur noch um Differenzen und Inkongruenzen geht."
Dieser
Dialoghappen zeigt, dass das Feuilleton inzwischen selbst in
die total breiten Schichten unserer Gesellschaft eingesickert
ist wie ein Rinnsal schalen Bieres in ein verschwitztes Polyestertrikot.
Lesen hat den Fussball als Volkssport Nummer eins verdrängt.
Alles dreht sich ums Buch. Das Eckige will ins Runde.
Doch
diese Leseeuphorie ist nicht ungefährlich. Spitzentrainer verzichten
auf Mental Coaching und verteilen neuerdings als Motivationshilfe
den frisch vom US-Schlachter übersetzten Essay "Tiere essen"
von Jonathan Safran Foer, was zu schweren Verlusten gerade im
schmackhaften deutschen Nachwuchsbereich geführt hat. Im Interview
mit "Lettre International" gab etwa das Regietalent
Mesut Özil freimütig zu, er verlasse das Land in Richtung La
Mancha, weil ihn die ausländerfeindliche Frau in der Bremer
Stadtbibliothek schon seit Monaten verdächtige, den Don Quijote
geklaut zu haben. EIne herbe Schlappe für das Auswanderungsland
Deutschland, schliesslich hiess es immer, dieser Özil sei einer
der wenigen, der "ein Spiel lesen" kann - und zwar
ohne Rechtschreibeprogramm!

Auch
die sehnlichst erwartete Verissesammlung von Hassprediger Gerhard
Stadelmaier ist so spitz und scharf geraten, dass manch ein
Schauspielfreund nach der Lektüre mit Schnittwunden ins Krankenhaus
eingeliefert wurde. Kenner empfehlen Stadelmaiers Fatwa dennoch
als metaphernstarken Schürhaken bei Bücherverbrennungen, in
parlamentarischen Sommerpausen und auf anderen Theatergrillfesten,
warnen allerdings vor der Gier nach Boulevardeskem mit Verweis
auf die neue Longlist für den Deutschen Bücherpreis. Tatsächlich
reiht sich da ein Schocker an den nächsten. Titel wie "Schnitzelklopper"
von Mario Bassler, dem Günter gRass der Pfalz, oder Fredi Bobics
mediokres Balkan-Epos "Der Freischärler" über einen
traumatisierten Frontheimkehrer bedienen zu offensichtlich niedere
Instinkte.
Auf der Strecke bleiben
die Texte unserer Favoriten. Da war dieses sensible Debüt des
Neuberliner Talents Steffen Seibert ("Sommerdividente,
später") über einen Mann ohne Eigenschaften, der bei seiner
Ich-Suche im Regierungsviertel alsbald auf eine ostdeutsche
Erotomanin trifft, die Physikerin A., die aber zwischen ihm,
der Atomkraft und allerlei Windrädern hin- und hergerissen ist.
Immerhin: Den "FAZ"-Kritiker erinnerte der Duktus
des deutsch-deutschen Bildungsromans an das Schnittmuster des
Mainzer Stadionsrasens zum Auftakt der Bundesliga. Doch genau
das scheint das Problem zu sein. Wer interessiert sich in diesem
Land der Dichter und Denker überhaupt noch für Fussball?
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