Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (22. August 2010)
 
Das Eckige muss ins Runde
   

   Neulich in den Schlussminuten eines Pokalspiels irgendwo im Brandenburgischen. Zwei kahl rasierte Anhänger der verlierenden Heimmannschaft stehen auf der Tribüne. Fragt der eine, in eine Bratwurst beissend: "Wie beurteilst du eigentlich die Qualität unserer zeitgenössischen Literatur?" Antwortet der andere, mit Schaum vor dem Mund: "Mit Verlaub, vom Hang zum Kanonisieren bei unserer bürgerlichen Kritik halte ich herzlich wenig. Für einen Poststrukturalisten wie mich bedeutet 'Lektüre' stets das Nachzeichnen eines zarten Textgewebes, bei dem es letztlich nur noch um Differenzen und Inkongruenzen geht."

   Dieser Dialoghappen zeigt, dass das Feuilleton inzwischen selbst in die total breiten Schichten unserer Gesellschaft eingesickert ist wie ein Rinnsal schalen Bieres in ein verschwitztes Polyestertrikot. Lesen hat den Fussball als Volkssport Nummer eins verdrängt. Alles dreht sich ums Buch. Das Eckige will ins Runde.

   Doch diese Leseeuphorie ist nicht ungefährlich. Spitzentrainer verzichten auf Mental Coaching und verteilen neuerdings als Motivationshilfe den frisch vom US-Schlachter übersetzten Essay "Tiere essen" von Jonathan Safran Foer, was zu schweren Verlusten gerade im schmackhaften deutschen Nachwuchsbereich geführt hat. Im Interview mit "Lettre International" gab etwa das Regietalent Mesut Özil freimütig zu, er verlasse das Land in Richtung La Mancha, weil ihn die ausländerfeindliche Frau in der Bremer Stadtbibliothek schon seit Monaten verdächtige, den Don Quijote geklaut zu haben. EIne herbe Schlappe für das Auswanderungsland Deutschland, schliesslich hiess es immer, dieser Özil sei einer der wenigen, der "ein Spiel lesen" kann - und zwar ohne Rechtschreibeprogramm!



   Auch die sehnlichst erwartete Verissesammlung von Hassprediger Gerhard Stadelmaier ist so spitz und scharf geraten, dass manch ein Schauspielfreund nach der Lektüre mit Schnittwunden ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Kenner empfehlen Stadelmaiers Fatwa dennoch als metaphernstarken Schürhaken bei Bücherverbrennungen, in parlamentarischen Sommerpausen und auf anderen Theatergrillfesten, warnen allerdings vor der Gier nach Boulevardeskem mit Verweis auf die neue Longlist für den Deutschen Bücherpreis. Tatsächlich reiht sich da ein Schocker an den nächsten. Titel wie "Schnitzelklopper" von Mario Bassler, dem Günter gRass der Pfalz, oder Fredi Bobics mediokres Balkan-Epos "Der Freischärler" über einen traumatisierten Frontheimkehrer bedienen zu offensichtlich niedere Instinkte.

   Auf der Strecke bleiben die Texte unserer Favoriten. Da war dieses sensible Debüt des Neuberliner Talents Steffen Seibert ("Sommerdividente, später") über einen Mann ohne Eigenschaften, der bei seiner Ich-Suche im Regierungsviertel alsbald auf eine ostdeutsche Erotomanin trifft, die Physikerin A., die aber zwischen ihm, der Atomkraft und allerlei Windrädern hin- und hergerissen ist. Immerhin: Den "FAZ"-Kritiker erinnerte der Duktus des deutsch-deutschen Bildungsromans an das Schnittmuster des Mainzer Stadionsrasens zum Auftakt der Bundesliga. Doch genau das scheint das Problem zu sein. Wer interessiert sich in diesem Land der Dichter und Denker überhaupt noch für Fussball?
 

 

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