Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (05. September 2010)
 
Deutschland schafft sich an
   

   Ich kauf mir was. Kaufen macht so viel Spass ... Ist das nicht ein altes Lied von Herbert Grönemeyer? Egal, ich bin jedenfalls gut drauf. Und wenn ich gut drauf bin, dann öffnet sich mein Warenkorb, dann flutscht es beim Shoppen.

   Das Buch von Thilo Sarrazin ("Deutschland schafft sich ab"), das kommt mir nicht in die Tüte. Zu dick (464 Sieten) und zu teuer (22,99 Euro). Ausserdem ist es momentan kaum zu kriegen. Der Verlag kommt mit dem Drucken nicht nach. Im Internet, hab' ich gelesen, bieten sie bei eBay und Co. das Buch gerade für 60 bis 80 Euro an.

   Ich zahle doch nicht so viel Geld für ein Buch, dessen wesentlicher Inhalt schon in allen Zeitungen stand. Ausserdem ist es angeblich ein dröges "politisches Sachbuch", wie Herr Sarrazin sagt, das auch noch schlecht ausgeht: Am Ende sind alle klugen Deutschen weg und nur noch dumme Ausländer da. Da kann ich mir ja gleich ein Buch über die Klimakatastrophe kaufen.

   Nein, ich lass' mir vom Herr Sarrazin nicht die Laune verderben. Ich lese lieber - Supermarktprospekte! Kein Witz. Auf meinem Briefkasten müsste eigentlich stehen: "Werbung? Immer rein damit!" Ich liebe Prospekte. Vergangene Woche zum Beispiel gab es bei Kaufland Taschenbücher für 2,99 Euro das Stück. Die Romane hiessen "Und draussen sang der WInd" oder "Liebe im Gepäck". Jahaah! Da kribbelt es doch, da krieg' ich gleich Flugzeuge im Bauch - übrigens auch ein Lied von Grönemeyer.



   Andere lesen "Zeit" und "Spiegel". Ich lese Kaufland, Rewe und Real, manchmal noch ein bisschen Lidl und Aldi. Es ist eine Leidenschaft von mir. Ich finde keinen, mit dem ich drüber reden kann. Supermarktprospekte sind offenbar ein grosses Tabu. Was aber ist wichtiger: Dass Merkel mal wieder den Westerwelle um den Finger gewickelt hat oder dass an der Fleischtheke die Rinderrouladen im Angebot sind? Eben.

   Ich werde wohl ein Skandalbuch drüber schreiben. Hier schon mal im Vorabdruck meine erste Wahnsinnthese: Mir ist aufgefallen, dass bestimmte Produkte des täglichen Leben, etwas Orangensaft, Waschpulver oder Zahncreme, alle paar Wochen im Sonderangebot sind. Da kannst du fast die Uhr danach stellen. Ich frage mich immer, wer diese Produkte noch zum regulären Preis kauft. Das müssen die bildungsfernen Schichten sein, von denen Sarrazin spricht. Die lesen nicht einmal Prospekte! Wenn solche Leute mit ihrem Geld nicht hinkommen, da habe ich kein Mitleid. So was müsste doch bei der Berechnung der Hartz-IV-Sätze berücksichtigt werden.

   Ziemlich hart, was? Hoffentlich ist es auch missverständlich genug formuliert.

   Sarrazin sagt: Deutschland wird immer dümmer. Ich sage: Der Jugend von heute fehlt es am Prospekt. Wer regelmässig Prospekte liest, fällt nicht mehr so leicht auf vermeintliche superwahnsinnigbillige Angebote herein. Er lernt auch, sich selbst zu hinterfragen: Muss ich mein Leben wirklich um den Klappstuhl "Paola" erweitern, den Rewe letzte Woche im Angebot hatte? Disziplin. Selbstbeherrschung. Organisation. Diese deutschen Tugenden haben mich allesamt die Supermarktprospekte gelehrt. Bildung ist möglich, Herr Sarrazin! Es sind nicht nur die Gene.
 

 

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