Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (19. September 2010)
 
Aggregat betriebsam
   

   Diese Woche schimmerte Deutschland in bläulichem Licht, ein leichtes Spratzeln lag in der Luft, in den Gemüsebeeten strahlten die Tomaten über beide Backen, die Menschen vibierten wie die Schachtelhalme. Warum? Nun, der Beschluss der Regierung, alles, was an Atomreaktoren noch herumsteht, weitere 140 Jahren anzuheizen, hat das Land in eine technische Euphorie versetzt. An allen Standorten warfen die Gnome des Bedienpersonals in ihren weissen Overalls übermütig einige Brennelemte mehr ins Gefecht. Die Kühltürme glühten, die Dampfturbinen rotierten wie von Sinnen, Neutronen schwirrten wie trunkene Sperlingspapageien in den Containments umher. Selbst die fusslahmsten Kraftwerke bekundeten die Absicht, bis weit über die Schmerzgrenze hinaus weiterzulaufen.

   Unsere Wissenschaftsredaktion war auf einer Erkundungstour durch die europäische Atomlandschaft und entdeckte zahllose vergessene Meiler in Industriegebieten, Vorortsiedlungen, ungenutzten Kellern und leerstehenden Kindertagesstätten. Meist handelte es sich um sogenannte Altreaktoren, die bereits zu Beginn der Industrialisierung ans Netz gingen - damals brauchte man Strom, um die ersten Webstühle anzutreiben und die Arbeiter mit Riesenzucchini zu versorgen, die im Schatten der Kühltürme prächtig gediehen. Danach dämmerten die mechanischen Meiler im Dornröschenschlaf, jetzt sollen sie wieder zum Leben erweckt werden. Prächtiges Beispiel ist der Meiler Brut II, der aus Schlesien exportiert wurde, wo ihn spielende Kinder kaputt machten. Neu instandgesetzt erhitzte er das Wasser in einem österreichischen Schwimmbad, bevor er jetzt im Hochsauerland wieder ans Netz geht. Betrieben wird er von der örtlichen freiwiligen Feuerwehr, der in einer bewegenden Zeremonie vom scheidenden österreichischen Sicherheitschef den Schlüssel und die Betriebsanleitung übernahm.



   Die Lektüre zeigte, wie kinderleicht und sicher heute der Betrieb eines Siedewasserreaktors geworden ist: "Danke, dass Sie haben entschieden Kauf eines Reaktors Brut II XL. Wenn grüne Knopf aktiv, leuchtet Aggregat betriebsam. Gemesst Strahlung nie mit blosser Hand ablüften! Problem, wenn auf Tisch Teller mit Spaghetti rutscht. Möglich Erdquaken! Wenn rote Lampen vergeblich verbrennen, nimmt Sie Beine in Hand und schlägt Atom wie blödsinnig mit Fliegenklatsche tot." - "Ja, dös is no die slowenische Übersetzung", schmunzelt der Sicherheitschef, dessen Handkuss maulbeerfarbene Brandnarben auf unseren Handrücken hinterliess. Dann verabschiedete er sich schnell.

   Die Behörden haben die Sorgen der Bevölkerung ernst genommen und die Sicherheitsstandards noch einmal verschärft. Neue Fliegengitter wurden installiert, im Kühlwasserbehälter tummeln sich Fische, die auf Radioaktivität mit sofortiger Entfärbung reagieren. Die Zufahrten sind für Burkaträger gesperrt, in der gesamten Anlage herrscht strengstes Explosionsverbot. Wackere Stromerzeuger wie Brut II lassen das Land strahlen wie ein Adventskalender und erwärmen den Winter bis zur Unkenntlichkeit. Nur das ständige Gespratzel irritiert ein wenig.
 

 

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