Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (15. Mai 2011)
 
   Die Rolle meines Lebens
 

   Was bliebe von mir, wenn mich morgen der Blitz träfe? Was würde meiner Familie fehlen? Die Antwort lautet: Klopapier

   Es war so, dass ich im Krankenhaus lag. Nichts schlimmes, nur eine Knieoperation. Die Sache zog sich allerdings in die Länge. Mein Knie wollte nach der OP einfach nicht wieder auf die Beine kommen, und in dieser Klinik kümmerte das keinen. Es waren Osterferien, der Laden schwach besetzt, vielleicht brauchte man mich auch zur Auslastung der Betten, was weiss ich.

   Die anderen Patienten kamen und gingen, nur meine Entlassung wurde immer wieder verschoben. Mit jedem Tag, an dem mein Knie und ich nutzlos herumlagen, wurde die Sehnsucht nach meiner Frau und meinen beiden Kindern stärker. Ich war es nicht gewohnt, länger von meiner Familie getrennt zu sein. Seit der Geburt meiner Kinder war ich nie mehr als ein paar Tage weg. Jetzt lag ich hier schon fast eine Woche.

   Ich bin eine männliche Glucke, an mir ist ein Hausmann verloren gegangen. Statt wild entschlossen in Krisengebiete zu reisen und tolle Reportagen zu schreiben, lese ich liebr meinen Kindern abends was vor. Statt mich am Ende des Tages mit wichtigen Leute zu treffen und Bedeutsames zu erfahren, trage ich lieber den Müll runter.

   In meinem Beruf ich es deshalb aller Voraussicht nach nie nach ganz oben schaffen. Zwar geniesse ich innerhalb der Redaktion ein gewisses Ansehen, aber das speist sich vor allem aus der Tatsache, dass ich den Kollegen in der Spargelzeit ab und zu ein paar frische Stangen mitbringe. Ich wohne nämlich in der Nähe eines Spargelbauern. In der Spargelzeit bin ich daher ein sehr gefragter Mann.

   Rein dienstlich betrachtet, sind hingegen keine Grosstaten von mir zu erwarten. Es ist eher unwahrscheinlich, dass ich die Kanzlerin mit einer Enthüllungsgeschichte stürzen oder als Chefredakteur Unsterblichkeit erlangen werde. Mein Bild wird nie in den Fluren unserer Redakion hängen, solche Typen wie mich hängen sie da nicht auf. Wenn mich morgen der Blitz träfe, würde mein Verlag wohl eher eine dieser Todesanzeigen schalten, in denen es zum Schluss immer heisst: "Wir werden ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren." In Wahrheit bist du einen Tag später schon vergessen.

   Entschuldigung, aber es waren so meine trüben Gedanken, als ich im Krankenhaus lag. Man ist schliesslich nicht mehr der Jüngste, man liest und hört so viel von plötzlichen Todesfällen. Vielleicht waren es auch erste Anzeichen einer beginnenden Midlife-Krise, die Gedanken eines in die Jahre gekommenden Mannes, der nach der Rolle seines Lebens sucht.

   Meine Frau und meine Kinder kamen mich regelmässig in der Klinik besuchen. Wir vermissen dich, sagten sie, dann gingen sie auch schon wieder. Was genau vermisst ihr, dachte ich. Was genau fehlt euch eigentlich, wenn ich nicht da bin? Ich habe einen Baum gepflanzt, Kinder gezeugt, aber als Mensch und Vater will man doch genauer wissen, mit welchen Leistungen man in Erinnerung bleiben wird.

   Am zehnten Tag in der Klinik nahm ich in der Angelegenheit meinen ganzen Mut zusammen und fragte endlich meine Frau. Sie stand am meinem Krankenbett und dachte lange nach. "Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Klopapier", sagte sie. Klopapier? Ja, sagte sie, seit der gute alte Papa nicht mehr zu Hause sei, gehe auf der Toilette alle paar Tage das Klopapier aus. Keiner da, der rechtzeitig für Nachschub sorge. Keiner da, der regelmässig und in weiser Voraussicht auf den Küchenbalkon gehe, um dort aus dem Schrank ein paar Rollen zu holen. Aber das sei natürlich nur ein Beispiel, fügte sie rasch hinzu, doch da hörte ich schon nicht mehr hin.

   Klopapier also. Das wird von mir bleiben. Wenn sie auf dem stillen Örtchen ins Leere greifen, dann denken sie an mich. Da schreibst du Artikel für die Ewigkeit, da legst du dich jeden Tag krumm für deine Lieben, hilfst im Haushalt und bei den Hausaufgaben. Am Ende zählen nur die paar Rollen auf dem Kloregal.

   Anderseits, so beruhige ich mich, hätte es viel schlimmer kommen können. Manche Väter bleiben als gewalttätig oder trunksüchtig in Erinnerung. Manche als jemand, der nie da war. Ich werde immerhin in die Familienchronik eingehen als einer, der seine Frau und seine Kinder stets zuverlässig mit Klopapier versorgt hat, wenn auch nur mit dreilagigem.

   Zwei Wochen nach meiner Knieoperation wurde ich endlich aus dem Krankenhaus entlassen. Es war Frühling, Spargelzeit. Als ich zum ersten Mal wieder ins Büro humpelte, sagte mein Chef: "Wir haben Sie vermisst." Ich fragte nicht warum.
 

 

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