Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (17. Juli 2011)
 
   Ist es noch weit?
 

   Ist es noch weit? Diese ins Philosophische hineinreichende Frage löst bei vielen Deutschen derzeit Herzrasen und Schüttelfrost aus. Ihnen steht die härteste Herausforderung der arbeitsteiligen Gesellschaft bevor: Der Urlaub. Dieses Ritual beginnt grundsätzlich um Punkt 4.30 Uhr mit einem hunderttausendfachen elektronischen Weckruf. In das Geräuschpanorama des erwachenden Deutschlands mischt sich alsbald der dumpfe Akzent von Kinder, die vor Müdigkeit umfallen. Erfahrene Eltern haben sie deshalb in Decken eingewickelt und am Vorabend ins Auto gepackt.

   5.30 Uhr: Die Suche nach wichtigen Reiseunterlagen beginnt. Sie befinden sich immer im grossen roten Koffer unten rechts im Kofferraum. Über dem stapeln sich kleine grüne und mittelgrosse braune Koffer, helle Reisetaschen, Schlauchboote, Rucksäcke, Säcke, Kühltaschen, Gartengrills, Fliegenklatschen, Fahrräder, Inlineskates. Wer mit beiden Händen in der Gepäcklandschaft herumwühlt, bekommt alsbald etwas Weiches zu fassen - die Kuscheltiere der Kinder. Man wirft sie kontrolliert hinter sich und hat bald vergessen, was man eigentlich gesucht hat.

   6.00 Uhr: Hunderttausende Mittelschichtkombis begeben sich auf eine Fernstrasse, die meistens A 8 heisst. Ein Asphaltband, das um diese Unzeit normalerweise von Hasen, Liebespaaren und Radfahrern bevölkert wird, verwandelt sich in eine Rollbahn, auf der sich Fahrzeuge in einem Tempo bewegen, das dem der Wehrmacht in den späteren Jahren des Ostfeldzugs entspricht. Allerdings ist die Entschlossenheit der Fahrzeugbesatzungen, bis zum Endziel durchzubrechen, weit grösser. Noch.



   12.30 Uhr: Die Frage "Ist es noch weit?" bekommt angesichts der nur minutenweise geöffneten Transferschläuche, die Schweizer und Österreicher in die Alpen getrieben haben, neue Aktualität. Gelassene Fahrer antworten mit dem Wort "Der Weg ist das Ziel", das nach vorläufigen Recherchen auf Konfizius zurückgeht, den Erfinder der Konfusionstheorie. Dieser hatte seinen Willen auf das Dao, also den Weg, gerichtet. Das Dao ist je nach Lage der Dinge ein Urinal oder ein staubiger Autogrill an der hitzeglostenden italienischen Autostrada. Das endgültige Dao hat Zimmer mit Dusche und einen bewachten Parkplatz.

   15.00 Uhr: Raum und Zeit sind ausser Kraft, nicht aber die Funktion der Schweissdrüsen und des Zwischenhirns, das den abfallenden Glukosestand meldet. Trockene Salamibrötchen helfen. Was aber hilft gegen die Frage "Ist es noch ...?"

   18.30 Uhr: Die Vorfreude darauf, mit entblösstem Oberkörper schamfrei den öffentlichen Raum zu besudeln, löst sich im Benzindunst auf. Man beschimpft überholende Konkurrenten, um zu überprüfen, ob man noch lebt. Doch was ist Leben? Kaffee.

   20.30 Uhr: Die Frage "Ist es noch weit?" wird mit Ohrfeigen beantwortet. Dao ist tot. Gott hat kein Einsehen. Krümel überall. Bleischweres Gefühl gnädigen Vergessens, bis die Tomtom-Stimme des elektronischen Weggefährten eine Abzweigung ankündigt. Wozu? Wohin? Und, wenn ja? Mitternacht. Dao ist weit weg - zuhause in der Doppelgarage. Die Sterne des Südens ziehen gut erholt ihre Bahn und blinzeln des Urlaubern fröhlich zu. Und ... ja, es ist noch weit. Sehr weit.

 

 

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