Via Gedankenübertragung
hat uns ein urlaubener Kollege diese Woche den folgenden Erlebnisaufsatz
übermittelt. Der Text ist Beleg dafür, was die Hitze mit einem
Menschen anrichten kann. Aber lesen Sie selbst.
Ich
muss für einen Moment weggedöst sein. Als ich die Augen öffnete,
stand er vor mir. Mein Blick war noch getrübt, aber das, was
ich sah, liess auf einen Prachtkerl von Hirsch schliessen. Was
für ein Geweih! Das Einzige, was mich irritierte: Dort, wo der
Kopf des Tieres hätte sein müssen, war ein Bikinihöschen.
Ich
bin 49 Jahre alt und nach Aussage junger Kollegen durchaus zu
Altmännerfantasien fähig. Aber was ich Ihnen eben zu schildern
versucht habe, ist nicht einem geifernden Geist entsprungen.
Es war wirklich so. In einem Freibad im Rems-Murr-Kreis wurde
ich aus nächster Nähe und ohne, dass ich mich aufgedrängt hätte,
einer sich über einer Bikinihose rankenden Tätowierung ansichtig,
die an den Kopfschmuck eines stolzen Hirsches erinnerte. Da
sich solche Ornamente vom Steiss nach oben ziehen, heissen sie
im Volksmund Arschgeweih.

Ein
Arschgeweih macht noch keinen Sommer. Und noch keine Zeitungskolumne.
Dass ich mich dennoch gezwungen sehe, Ihnen, liebe Leser, live
aus meinem Urlaub von dieser Begegnung zu berichten, hat zwei
Gründe. Zum einen bekommt so mein Chef mit, dass ich in meiner
Freizeit schaffe. Zum anderen fand ich es bemerkenswert, dass
ich der einzige Besucher in dem Freibad war, der keine Tätowierung
trug. Ich hegte den Verdacht, dass man mit Tätowierung Rabatt
bekommt. Die Frau an der Kasse schüttelte den Kopf.
Ich
besuche besagtes Freibad im Rems-Murr-Kreis bereits in der dritten
Woche. Noch immer tue ich mich mit den gestichelten Körpern
schwer, was wohl damit zu tun hat, dass ich in dem Glauben aufwuchs,
Tätowierungen seien Seeleuten, Rockern und Ganoven vorbehalten.
Mein
Nachbar, der auch in das Bad geht, gehört keiner dieser Berufsgruppen
an. Er macht was mit Regalen. Im Nebenberuf ist er Familienvater
und Halbitaliener, aber eigentlich ist er ganz nett. Sein Rücken
ist von einer riesigen Tätowierung bedeckt. Bei seiner Vorgeschichte
war für mich klar: Die Tätowierung muss das Relikt einer wilden
Jugend sein. Vermutlich haben auf seinem Rücken irgendwelche
Mafiosi oder Camorra-Kumpel ihre Handschrift hinterlassen. Blödsinn,
sagt mein Nachbar, hättest du genau hingeschaut, hättest du
gesehen, dass zwischen den Ornamenten die Namen meiner Kinder
stehen.

Ich
fürchte, mit jedem weiteren Tag im Freibad schmelzen meine Vorbehalte
gegenüber Tätowierungen. Wenn ich es genau bedenke, dann bewundere
ich Leute, die den Mut haben, sich etwas für die Ewigkeit unter
die Haut zu stechen zu lassen. Als Mann des Wortes müsste es
in meinem Fall ein grosser Satz sein. Ein Bibelzitat. Was Literarisches.
Am besten wäre etwas Selbstgeschriebenes. Werde in den mir noch
verbliebenen Urlaubstagen nach einem Satz suchen, der unter
die Haut geht.
|