Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (28. August 2011)
 
   Dieser Text geht unter die Haut
 

   Via Gedankenübertragung hat uns ein urlaubener Kollege diese Woche den folgenden Erlebnisaufsatz übermittelt. Der Text ist Beleg dafür, was die Hitze mit einem Menschen anrichten kann. Aber lesen Sie selbst.

   Ich muss für einen Moment weggedöst sein. Als ich die Augen öffnete, stand er vor mir. Mein Blick war noch getrübt, aber das, was ich sah, liess auf einen Prachtkerl von Hirsch schliessen. Was für ein Geweih! Das Einzige, was mich irritierte: Dort, wo der Kopf des Tieres hätte sein müssen, war ein Bikinihöschen.

   Ich bin 49 Jahre alt und nach Aussage junger Kollegen durchaus zu Altmännerfantasien fähig. Aber was ich Ihnen eben zu schildern versucht habe, ist nicht einem geifernden Geist entsprungen. Es war wirklich so. In einem Freibad im Rems-Murr-Kreis wurde ich aus nächster Nähe und ohne, dass ich mich aufgedrängt hätte, einer sich über einer Bikinihose rankenden Tätowierung ansichtig, die an den Kopfschmuck eines stolzen Hirsches erinnerte. Da sich solche Ornamente vom Steiss nach oben ziehen, heissen sie im Volksmund Arschgeweih.



   Ein Arschgeweih macht noch keinen Sommer. Und noch keine Zeitungskolumne. Dass ich mich dennoch gezwungen sehe, Ihnen, liebe Leser, live aus meinem Urlaub von dieser Begegnung zu berichten, hat zwei Gründe. Zum einen bekommt so mein Chef mit, dass ich in meiner Freizeit schaffe. Zum anderen fand ich es bemerkenswert, dass ich der einzige Besucher in dem Freibad war, der keine Tätowierung trug. Ich hegte den Verdacht, dass man mit Tätowierung Rabatt bekommt. Die Frau an der Kasse schüttelte den Kopf.

   Ich besuche besagtes Freibad im Rems-Murr-Kreis bereits in der dritten Woche. Noch immer tue ich mich mit den gestichelten Körpern schwer, was wohl damit zu tun hat, dass ich in dem Glauben aufwuchs, Tätowierungen seien Seeleuten, Rockern und Ganoven vorbehalten.

   Mein Nachbar, der auch in das Bad geht, gehört keiner dieser Berufsgruppen an. Er macht was mit Regalen. Im Nebenberuf ist er Familienvater und Halbitaliener, aber eigentlich ist er ganz nett. Sein Rücken ist von einer riesigen Tätowierung bedeckt. Bei seiner Vorgeschichte war für mich klar: Die Tätowierung muss das Relikt einer wilden Jugend sein. Vermutlich haben auf seinem Rücken irgendwelche Mafiosi oder Camorra-Kumpel ihre Handschrift hinterlassen. Blödsinn, sagt mein Nachbar, hättest du genau hingeschaut, hättest du gesehen, dass zwischen den Ornamenten die Namen meiner Kinder stehen.



   Ich fürchte, mit jedem weiteren Tag im Freibad schmelzen meine Vorbehalte gegenüber Tätowierungen. Wenn ich es genau bedenke, dann bewundere ich Leute, die den Mut haben, sich etwas für die Ewigkeit unter die Haut zu stechen zu lassen. Als Mann des Wortes müsste es in meinem Fall ein grosser Satz sein. Ein Bibelzitat. Was Literarisches. Am besten wäre etwas Selbstgeschriebenes. Werde in den mir noch verbliebenen Urlaubstagen nach einem Satz suchen, der unter die Haut geht.

 

 

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