Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (11. September 2011)
 
   Wir sind Pilz
 

   Der Herbst tut ja derzeit das, was er im September meistens tut, wenn er nichts anderes zu tun hat: Er steht nämlich vor der Tür. Das erkannte man diese Woche daran, dass sich in den deutschen Wäldern Menschen im lodengrünen Umhang mit breitkrempigen Hut tummeln, die aber nicht Tiere töten oder verstümmeln, sondern Pilze suchen. Dieses Treiben gilt als Megatrend der Postmoderne und wird von Soziologen als die Jagd des kleinen Mannes bezeichnet.



   Der Pilz hat sich längst zu einem liebgewonnen Lebensgenossen des Menschen entwickelt. War er in der Nachkriegszeit vorübergehend von der Bildfläche verschwunden - man warf ihm sein kriecherisches Gebaren während des braunen Spuks vor - ist er heute aus dem öffentlichen Leben nicht wegzudenken. Pilze schaffen es regelmässig in die Endrunde des Klagenfurters Literaturwettbewerbs, sie saugen sich in den Parlamenten und den Grossraumbüros der Investmentbanken fest. Wendepunkt im öffentlichen Ansehen der Mykologie war jenes Schwarz-Weiss-Foto eines Atompilzes, das damals in jeder Arztpraxis hing. Heute gilt der Pilz als der wahre Überlebenskünstler des 21. Jahrhunderts. Wetterwendisch in seinen Ansichten, unauffällig, gewitzt, zu asexueller Lebensweise tendierend, dabei aber fleischlichen Genüssen zugeneigt und meist wohlschmeckend. Kein Wunder, dass sich Personaler  und Partnervermittlungen um Pilze reissen. Dennoch wirft die Pilzsuche für Normalbürger schwierige Fragen auf. Welcher Pilz passt zu mir, fragen sich viele Liebhaber. Nun, das hängt vom Einsatzbereich ab.

   Wer einen ruhigen und zurückgelehnten Gesprächspartner sucht, sollte sich auf die Suche nach einem Birnenstäubling machen, der sich auf dem zweiten Bildungsweg von einer niedrigen Pilzform zur intellektuellen Speerspitze unter den Eukaryoten gemausert hat. Er reisst jede Debatte an sich und antwortet auch auf Fragen, die neimand gestellt hat. Der Hausschwamm wiederum (Serpula lacrymans) wird wegen seines berechnenden Charakters eher gemieden. Wer ihn einmal in der Stube hat, ihm vielleicht noch die Pin-Nummer des eigenen Girokontos verrät oder eine Hälfte seiner Immobilie überschreibt, wird böse überrascht. Serpula entfaltet ihre zerstörerische Wirkung im Verborgenen - wenn man es merkt, ist alles schon zu spät, und vom Konto sind nur noch braune Brösel übrig.



   Der gelbe Faltenschirmling gilt als klassischer Dekorationspilz und erlebt im Zuge der Retrowelle in Wohnzimmern und Lofts ein nicht geahntes Comeback. Ein klassisches Statussymbol für kinderloser Yuppies ist der Samtfussrübling, den man oft auf dem Rücksitz eines Geländewagens sieht. Nachts in der Lounge trägt er einen abgeflachten schmierigen Hut, schmiegt sich an seine Besitzerin und beeindruckt durch seine Fähigkeit, unbegrenzt blassgelbe Drinks mit hohem Alkoholgehalt in sich hineinzuschütten. Ein zinnoberroter Pustelpilz wiederum ist der ideale Spielgefährte für Kinder. Seine toxische Ausscheidungen bringen die kleinen Feger schnell zur Raison. Pilzliebhaber haben also die Qual der Wahl. Wie immer man sich entscheidet: Wer in Zeiten der Krise auf Pilze setzt, macht nichts falsch.

 

 

Zurück