Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (10. Oktober 2012)
 
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   Alle Jahre wieder erinnert uns die Buchmesse an all die spannenden Bücher, die man unbedingt mal lesen wollte. Die "Bibel". Den "Turm". Die Gebrauchsanleitung für den Nasenhaartrimmer. Doch so oft kam was dazwischen, lag auf dem Nachttisch statt d er Lesebrille der Abschiedsbrief der Liebsten oder ein toter Hamster. Schrecklich. Doch genau deswegen lohnt sich die Lektüre wieder, auch weil das Leben wie das Leben selbst so herrlich sinnlos ist. Literatur darf und soll wieder wehtun - wie die Migräneattacke nach dem Öffnen der Nebenkostenabrechnung. Unser Feuilletonist - Absolvent des Schreibworkshops "Herbst oder Die Poetik der blickdichten Strumpfhose" und Ehrenvorsitzender im Iris-Radisch-Fanclub Stuttgarter Halbhöhe - hat die schmerzhaftesten Neuerscheinungen der Saison für Sie ausgewählt.



   Da wäre etwa die "Schachnovelle" von Peter Steinglück, eine beklemmende Ich-Dekonstruktion in 34 Zügen. Der Held, ein Politzocker und abgebrannter Vortragsreisender, spielt noch einmal das Spiel seines Lebens. Nach einem wagemutigen Springer-Opfer (Steinmeier-Gambit) glaubt er lange Zeit, er sei ein König, dorch wird er im gnadenlosen Endspiel als Bauer gegen eine dickliche, hundeäugige Dame ausgetauscht. der kafkaeske Text ist eine dezidierte Absage an jegliche Sozialromantik und Interpunktion. Konsequent verwechselt der Begabte Jungautor (65) Stile und Perspektiven. Höhepunkt der Novelle ist der Epilog: Zwei unfrankierte Bettelbriefe an Post und Siemens. Hilfeschreie ins nichtige Dunkel. Leises Blätterrauschen als Antwort, nur das. Grossartig.

   Ähnlich zielstrebig kommt auch Ursula von der alten Leier in ihrem pikanten Bestseller "Shades of Grey. Spätes Verlangen" zur Sache. Grey, ein 117-jähriger Silver Ager mit digitaler Demenz und unstillbarem Sexappetit, treibt sein Unwesen in den Schwesternzimmern deutscher Altenheime. Ähnlich wie in ihrem geriatrischen Hardcore-Krimi "Trockengebiete" setzt die Autorin auch in diesem speichelfördernden Roman auf Provokation. Statt sein Leben Kuchen und Wurstaufschnitt zu widmen, investiert der Lustmolch seine Zusatzrente in Viagra. Eine wahrhaft lebenspralle Abrechnung mit den moralischen Codes unserer Zeit, die in ihrer Radikalität an den jüngsten Schrumpfbericht des Demografie-Gipfels oder Charlotte Froschs erotische Rezeptesammlung "Backpflaume, später" erinnert. Grossartig.



   Auch ein grosser Wurf: "On the Road" von Jack Kräuterquark. Die Neuübersetzung liest sich schneller als als das Original, auch weil sich der Verlag alle Konsonanten gespart hat. Die Erzählung kreist um einen autistischen Formel-1-Rennfahrer namens Schumi, der die Ausfahrt verpasst hat und plötzlich wie alle anderen auf der A 8 im Stau steht. Dann passiert nichts mehr. Grossartig.

   Die einzige Frage ist nur, was der tote Hamster in dieser Kolumne soll. Und was, wenn es gar kein Hamster war, sondern eine ermordete Leseratte? Ein blindes Motiv? Die Augenbrauen von Martin Walser? Lesen Sie wohl.
 

 

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