Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (04. November 2012)
 
Träume und Schäume
 

   Neulich beim türkischen Gemüsehändler an der Ecke. An der Kassse hat sich eine lange Schlange gebildet. Die Auberginen in den Kisten sind weich wie die Matschbirne eines Dynamo-Dresden-Fans. Es riecht nach Fauligem. Die Ayranbecher sind seit Wochen abgelaufen. Eine brotblonde deutsche Hausfrau mit einem Kind auf dem Arm verliert die Nerven und schreit: "Beeil disch, Lan, sonst machisch disch Krankehaus, Alta! Ischwör!" Der ältere Herr vor ihr dreht sich um und sagt: "Pssst! Unterstehen Sie sich. Sehen Sie denn nicht? Herr Özkan kann auf keinen Fall das Gemüse einscannen. Er liest." Dann unterbricht der hinter der Kasse sitzende und im Kants "Kritik der praktischen Vernunft" vertiefte Herr Özkan seine Lektüre, schaut auf und zitiert den kategorischen Imperativ.



   So ungefähr hat es sich abgespielt - und zwar im Kopf von Repec Tayyip Erdogan. Der türkische Premier träumte von einem Deutschland, in dem seine Landsleute Hegel, Kant und Goethe verstehen. Eine irre Vorstellung. Schliesslich können das nicht einmal ein Prozent aller "Zeit"-Abonnenten mit Sesshaftigkeitshintergrund von sich behaupten. Doch zeigt es wieder mal, dass der gemeine Mensch nicht glücklich sein kann ohne ein gewisses Mass an praktischer Unvernunft, ohne seine tägliche Walpurgisnacht. Wowereits Schönefelder Luftnummer, der zu Tode gerommelte Mythos vom germanischen Edelsoldaten - unsere faustischen Tageträume sind die süssen Schäume auf dem bitteren Kaffe des Lebens. Wie viele Frauen träumen sicht nicht allmorgendlich über die Tatsache hinweg, dass der Traummann unter der Decke nicht der waschbrettharte Daniel Craig ist, sondern ein pupsendes Halloween-Monster mit Waschbärenwampe? Wie viele arbeitslose Ostdeutsche heissen Mandy oder Ronny, weil ihre Eltern einst, das ergab eine Studie, nach Namen aus dem Land der ihrer Träume suchten? Auch träumt die Feinschmeckerabteilung der CSU mehr denn je von der altbajuwarischen Giftküche, als man noch wusste, wie man aus gärendem Journalistenquark im Halsumdrehen eine leicht verdauliche Werbepampe (Obatzter) anrührte.



   Das Anbatzen der Realität ist aber keine Erfindung einer bayerischen Bananenrebuplik oder gar Amerikas, dem Land der Tellerwäscher und Endzeitstürme. Nein, es ist eine urdeutsche Spezialität. Längst vergessen die Zeiten, als noch gescheiterte Postkartenmaler aus Braunau nach Berlin zogen, um ganz grosse Nummern zu werden. Doch heute hat dieses Land das Träumen verlernt, Angela Merkel sei Dank. Wo sie hinregiert und reintrötet, da fällt kein Auge mehr zu. Im hegelianischen Wachkoma gibt es weder romantische noch revolutionäre Träume. Bleibt lediglich die Hoffnung auf den Weltgeist. Oder der Tipp: Taufen SIe ihr Kind nicht Mandy oder Sandy, sondern Peer: Möglich, dass selbiges irgendwann von den Stadtwerken Bochum einen Haufen Geld bekommt, für einen Vortrag, in dem weder Hegel, Kant, noch Goethe vorkommen. Einfach so. Ein deutscher Traum.
 

 

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