Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (19. Mai 2013)
 
Orgien, Biografien und Amputationen
 

   "Im Pool vor dem erleuchteten Plattenbau trieben aufblasbare Zebras und leere Rotkäppchensektflaschen. Der Steg wippte unter zuckenden Leibern. Wild, sexy, ekstatisch - diese Jugend trieb die Sehnsucht nach Freiheit und echtem Champagner. Im Festsaal entlockte ein irrer Musiker - eine Kreuzung aus Leonardo DiCaprio und Gregor Gysi mit Federboa - einer restaurierten Stalin-Orgel diabolische Klänge. Die Musik fuhr wie Blitze in die Glieder. Man tanzte Boogie-Woogie oder den einbeinigen Puhdy. Und hinter der Theke tigerte ein Bubikopf-Vamp mit Birnensilhouette auf und ab. Wer beim Anblick der Bardame nicht sofort aus den Latschen kippte, verlor spätestens nach einem Schluck ihres zersetzenden Kirschvodka-Cocktails (Karl-Marx-Stadt Sling mit Spreewaldgurke statt Olive) jedes Vertrauen in Partei und Kassenbrillen."

   Die orgiastischen Szenen stammen nicht etwa aus dem Kinofilm "Der grosse Gatsby" nach dem Roman von F.Scott Fitzgerald, diesem Schlüsselwerk der amerikanischen Literatur zu den Roaring Twenties. Nein, die Schilderungen finden sich in dem reisserischen Buch "Das frivole Leben der Angela M.", das ein deutsches Schlüssellochwerk zum Aufstieg einer Bardame in den Boring Seventies in der DDR zur Weltkanzlerin darstellt. Biografien sind im Gegensatz zu moderner Lyrik hierzulande sehr beliebt. Täglich erscheinen tonnenweise Enthüllungen über irgendwelche Talkshow-Parlamentarier und C-Promis. Die meisten davon sind ungefähr so prickelnd wie die Inhaltsangabe der Doktorarbeit von Angela Merkel ("Untersuchung des Mechanismus von Zerfallreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanzen auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden").



   Wer noch keine Biografie von sich im Regal stehen hat, ist definitiv gescheitert. Ist immer noch Bardame in der Leipziger Uni-Disco oder wurde in das Kompetenzteam der SPD berufen. Was absurd erscheint, denn nichts und niemand ist vor einer detailversessenen Biografie sicher. Angela M. genauso wenig wie Hitlers Schäferhündin ("Blodis Vermächtnis") oder Richard Wagners juckender Furunkel hinten links ("Wahnfried").

   Den typischen Biografisten erkennt man an seiner Lesehaltung. Der Text wird nicht mit den Augen entziffert, sondern mit der Nase erschnüffelt. Was mit den Jahren zu einer Defomation des Riechorgans führen kann ("Biografie-Rüssel"). Von einer öffentlichkeitswirksamen Amputation wird abgeraten, nicht jeder verdächtige Rüssel führt zum Rufmord. Manchmal fördert die aus zwei Diktaturen vererbte Lust zum Denunzieren tatsächlich auch Wissenwertes ans Licht. In der Biografie über den Tagesschausprecher Tom Buhrow ("Mein WDR") erfährt der Leser, dass dessen rätselhafte Mona-Lisa-Schmunzeln beim Verlesen blutrünstigster Nachrichten nicht etwa einem genetisch bedingten Zynismus geschuldet ist, sondern dem krankhaften Harndrang zu Höherem. Interessant, nicht wahr?

 

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