Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (17. August 2014)
 
Völkerwanderung in den Süden
 

   Gleissender Asphalt, der sich mit Motorenlärm, dem Kreischen von Kindern und dem Geruch Abertausender Körper im Aggregatzustand der Urlaubsverwahrlosung zu einem alle Sinne verzaubernden Gemisch verdichtet. Die Völkerwanderung germanischer Ethnien nach Südeuropa hat in dieser Woche wieder ihren Höhepunkt erreicht. In Kiefersfelden, jenem uralten Grenzübergang, der schon von den Langobarden genutzt wurde, erinnert ein Denkmal an den ersten Zug in den Süden.

   Damals war es die Familie Podzuwski (zwei Erwachsene, vier Kinder) aus Erkenschwick, die sich mit ihrem Opel Kadett bis an die Adria durchschlug und dort in fehlerfreiem Deutsch Spaghetti und Rotwein bestellte. Sonne, Trunkenheit, Lire-Betrug, Klappbetten, Seeigel und Motorenöl umwölkten die Podzuwskis. Dieser Duft der Italianita verzauberte die Daheimgebliebenen so nachhaltig, dass sich schon im Folgejahr ein Konvoi aus sechs Autos formte, von denen zwei am Gotthard-Pass verdampften, eines auf Höhe Milano spurlos an einem Rastplatz verschwand und sich die Besitzer der drei verbliebenen unter dem Einfluss eines italienischen Bademeisters nicht mehr zu einer gemeinsamen Heimfahrt entschliessen konnten.



   Die Krise in Mitteleuropa (sinkende Durchschnittstemperaturen, die Mutti-Regierung, das Verschwinden des Opel Kadetts) hat die Wanderbewegungen zu einer kaum noch zu kontrollierenden Massenflucht in den Süden verwandelt. An der Raststätte Irschenberg wurde in dieser Woche das siebenmillionste Wiener Schnitzel mit Zitrone und Pommes (wahlweise mit Bratkartoffeln) ausgegeben. Der Pächter berichtete, er habe den Preis auf 25,40 Euro gesenkt, weil er das Elend in den Augen der Flüchtlinge nicht mehr mit ansehen konnte. Familie Podzuwski (zwei Erwachsene, zwei Kinder, drei Enkel) hat ihren Ford Mondeo Diesel seit Montag 56,89 Meter Richtung Süden bewegt. Man komme gut voran, so der Familienvater, der sich am Mittwoch das fünfte Unterhemd überstreifte.

   Zur Wochemitte spricht der Bayrische Rundfunk von einer humanitären Katastrophe. Unter den Ausreisewilligen drohte der Ausbruch unkontrollierter Langweile, weil die Akkus vieler Handy und Spielekonsolen am Ende ihrer Kräfte sind. Horst Podzuwski verteilt die letzten Wasservorräte. Der Mondeo stöhnt sich über eine Strecke von weiteren 22,30 Metern. Die Stimmung ist angespannt, aber ans Aufgeben denkt niemand.



   Am Freitag macht Familie Podzuwski einen knappen Kilometer gut. "Ab jetzt rutscht es", weiss der Rentner. In der Ferne schälen sich die Alpen aus dem Dunst der Abgase. Man meint, das heisere Lachen der italienischen Bademeister schon zu hören. Am sternenklaren Nachthimmel funkelt das Sternenbild der grossen Qualle. Die Podzuwskis sind jetzt ganz dicht dran. Nur die Wegelagerer an den italienischen Mautstellen bereiten noch Sorge. Kugelschreiber, Aspirintabletten und Kondome werden als Wegezoll bereitgehalten. Ob das aber reicht? Demnächst mehr.

 

Zurück