Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (26. Oktober 2014)
 
Kaut auf diese Stadt!
 

   25 Jahre nach dem Fall der Mauer ist es an der Zeit, ein bislang unbekanntes Stück deutsche Geschichte aufzuarbeiten. Ich rede von dem Stück Kaugummi, das ich Anfang der achtziger Jahre im Deutschen Bundesrat unter einen Sitz geklebt habe.

   Es war ein Schulklassen-Ausflug in die damalige Hauptstadt Bonn, wir hatten die Nacht durchgemacht, ich sass hundemüde im Bundesrat und war damit beschäftigt, während des Vortrages über das politische System der Bundesrepublik Deutschland nicht einzuschlafen.



   Plötzlich kam mir die Idee, mich im Bundesrat zu verewigen. Ich war hier! Und so nahm ich meinen Kaugummi und klebte ihn irgendwo hin. Ich weiss noch genau, dass es der Platz war, wo sonst der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht sass. Eine Sauerei. Eine Schändung des Föderalismus. Ein Anschlag auf den verdienten Herrn Albrecht und die guten SItten. Ich schäme mich noch heute.

   Heute heisst die Hauptstadt Berlin und noch immer kleben die junge Leute ihre Kaugummis irgendwo hin. Allerdings gibt es mittlerweise feste Anlaufstellen für Kaugummi-Kleber, so dass sich keine Fäden durch die Stadt spinnen. Ich sehe darin einen Fortschritt. In Berlin sind es zwei Segmente der damaligen Berliner Mauer, die inzwischen mit Kaugummis übersäht sind. Kritiker beklagen, dass die jungen Leute, zumeist Touristen, durch ihr krankhaftes Tun den Denkmälern ihre Bedeutung rauben. Demnach wären da Klebtomanen am Werk. Andere warnen davor, dass Geheimdienste und Polizei durch die Kaugummireste nun problemlos an DNA-Proben kämen. Wozu haben wir die Vorratsspeicherung abgeschafft, wenn nun die Vorratsspeichelung kommt?

   Der Berliner CDU-Bundesabgeordnete Frank Steffel hat eine Reinigung der Mauerstücke gefordert - spätestens bis zu den Feierlichkeiten am 9. November. Die eher bedächtig agierende Berliner Stadtverwaltung hat allerdings schon vor Jahren festgestellt, dass eine solche Reinigung auch die Original-Graffiti wegputzen würde, die unter den Kaugummis verborgen sind.

   Früher hat man die Graffiti eher als Schmiereien angesehen. Seit dem Mauerfall gelten sie als historisches Zeugnis, das unbedingt erhalten werden muss. Ob etwas Kunst ist oder Dreck, ist eben auch eine Frage der Zeit.



   Mittlerweise verewigen sich sich die Touristen in Berlin auch auf dem Boulevard unter den Linden. Ein erster Lindenbaum ist bereits derart gummiert, dass er als Kautschukpflanze gilt. Bald wird der neue Hauptstadtflughafen, der als groteske Fehlplanung zu den touristischen Hauptattraktionen zählt, ebenfalls so zugeklebt sein, dass dort endgültig kein Flugzeug mehr wird abheben können.

   Mein Rat an die jungen Leute von heute lautet: Wer das dringende Bedürfnis verspürt, einen Kaugummi irgendwohin zu kleben, der gehe nach Berlin. Dort rief schon vor Jahrzehnten ein grosser Bürgermeister; Ihr Völker aller Welt, kaut auf diese Stadt!

 

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