Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (01. März 2015)
 
Wenn alles taut
 

   Europa wärmt sich auf. Die Menschen, die sich eben noch klammschaudernd aneinandergepresst haben, atmen tief durch und und spenden ihre langen Unterhosen einem afrikanischen Krisenstaat. Der alte Kontinent kommt in Fluss. Hatte der Eishauch der Weltpolitik über Monate hinweg jedes menschliche Wesen zum Erstarren gebracht, die Menschen um Notaufnahme in den Saunalandschaften irgendwelcher Industriegebiete betteln lassen und Südeuropa in starres Büssertum versetzt, geraten die Elemente in Bewegung. Die grosse Schneeschmelze setzt ein und bringt wieder alles zum Vorschein, was vom vergangenen Jahr übrig blieb: Verflossene Liebhaber, vergessene Einkaufszettel, verlegte Autoschlüssel, verdrängte Pflichten und Aufgaben, nie vorgetragene Gedichte, verschleppte Krankheiten, ignoriertes Soll und Haben. Sogar die FDP befreit sich vom Eise durch des Frühlings belebenden Blick. Längst vergessen geglaubte gelb-blaue Politiker recken ihre Köpfe aus dem kalten Grab der politischen Vergessenheit und zünden die Lichter ihrer Apotheken an.



   Warum der Schnee jetzt schmilzt, ist ungeklärt. Experten vermuten, dass der wärmende Verdauungsvorgang der vielen Hunde eine entsprechende Reaktion auslöst (Taedium Nivis: Schneeekel). Oder sind es die faulen Kompromisse der Politik, die die Luft modernd erwärmen? Andere gehen davon aus, dass die sensiblen Schneekristalle beim Anblick gemästeter Bürger, die zum ersten Mal die Terassen der Mittelschichtsiedlungen bevölkern, panikartig zusammenschnurzeln. Es ist zum Fürchten, doch bisher haben weder Politiker noch Klimaforscher ein Rezept dagegen gefunden, um das Zurückweichen des Schnees zugunsten von Schlamm und feuchter Fröhlichkeit zu verhindern.

   So schmilzt alles weiter vor sich hin. Es schmelzen die Barreserven der Banken, es schmelzen das schlechte Gewissen und das gute Benehmen. Alles wird flüssig - ausser den Griechen. Man brauche Zeit, heisst es in Athen, um die Voraussetzungen für eine eigene Schneeschmelze zu schaffen. Ein paar Monate, dann sei das Land ein kraftstrotzender Gletscher, in dessem Inneren die korrupten Figuren der griechischen Geschichte für immer eingefroren wären. Nur ihre Konten würden aufgetaut. Angesichts solcher Prognosen schmilzt sogar in Brüssel die technokratische Kälte. Der deutsche Finanzminister sendet in einem unbeobachteten Moment einige Kilojoule an Wärme in Richtung Athen ab. Dann zieht er sich, der grimmige Winter, in die rauen Berge zurück - dorthin, wo kein Hauch des Frühlings hinfindet und säumige Schuldner in zugigen Verliesen bibbern.



   Wohin das Tauwetter führen soll, ist nicht abzusehen. Wenn alles taut, gerät die Welt ins Rutschen. Europa löst sich von sich selbst, zerfällt in Platten, die nach Süden treiben. Dort ist es warm, blinken farbige Kleider, jauchzt zufrieden Gross und Klein. Am Ende der grossen Schneeschmelze sind wir alle Griechen, frech und unverwundbar. Doch hinter dem blauen Horizont dämmert schon der nächste Winter. Wohl dem, der dann noch Schuldscheine hat, die er verbrennen kann.

 

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