Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (06. Dezember 2015)
 
Der Schleim des Winters
 

   Ein Geräusch liegt in der Luft. Ein Zuzeln, Keuchen, Schnaufen, das zwischen einem tuberkolösen Dampfkochtopf und einer defekten Toilettenspülung oszilliert. Es wird begleitet von einem Sprühnebel, der Trugbilder in den Weihnachtsmärkten projiziert und die Verkehrsstaus in eine milchig-sentimentale Passion verwandelt. Das neblige Keuchen ist die traditionelle Begleiterscheinung des Winters in Mitteleuropas. Er wird verursacht durch ein ruckartiges Hochziehen des Naseninhalts, der dort zwischen Kleinhirnrinde und Nasenscheidenwand einen Moment verharrt, um dann desto vehementer wieder nach unten zu schiessen - zum Licht, zur Freiheit - und dabei die um ihn tanzenden Schleimtröpfchen in ein Ballett der Virologie verwndelt, das am Ende einen feuchten Abdruck auf dem Pflaster der Fussgängerzone hinterlässt.



   Die Tröpfchen gehen weite Wege. Eine Nase an der Ostseeküste entlässt sie, böiger Küstenwind trägt sie bereitwillig über das Land, sie schmiegen sich an den Handrücken eines Bediensteten der Bahn, der sie wiederum mit in den ICE "Bettina von Arnim" transportiert, wo sie sich im feuchtwarmen Klima des Bordbistros - zwischen Milchschaum und aufgewärmten Hähnchenschnitzeln - wie zu Hause fühlen. Ein ausgeschenkter Kaffee lässt sie in der ersten Klasse wandern, wo sie sich an die glänzende Glasfläche eines nagelneuen iPhone 6 anheften, dessen Besitzer mit seinen makellos manikürten Zeigefinger einige Millionen von ihnen in die ebenso makellose Büroflucht eines Frankfurter Bankenhochhauses trägt.

   Dort löst sie bei einem Börsentrader im Handelsraum ein exlosionsartiges Niesen aus, in dessen Folge seine Computermaus einen kleinen Satz in Richtung eines von der Pleite bedrohten Schiffsfonds macht, diesen mit dem Einsatz einiger Milliarden zwar rettet, aber die Bank in den Abgrund stürzt und einen weltweiten Absturz der Märkte, allgemeine Kapitalflucht, Armut, Überschuldung, Kriminalität und Zivilisationsmüdigkeit auslöst. Die panikartig aus ihren Geldhäusern fliehenden Händler tragen den Schleim des Winters in ihre Lofts und Penthouse-Wohnungen, wo er sich an Kinder, Geliebte und Bordeauxflaschen anheftet.



   Damit ist der infektiöse Inhalt einer friesischen Nase endgültig unter uns, Wenn Sie, lieber Leser, diese Zeitung in Händen halten, ist es bereits zu spät. Auch diese Kolumne dient den Virentrupps als Brücke zum Menschen, in dessen Privatsphäre sie sich ungenierter breitmachen als jede Schadsoftware, die über die sozialen Netzwerke zu uns einsickert. Studien zufolge ist die Zeitung neben der Oberfläche eines Handys, der Küchenspüle und dem Milchschaums eines Cafe macchiato die am weitesten mit Erregern übersäte Fläche der modernen Gesellschaft. Wer sich davor schützen will, bewahrt Taschentuch und Zeitung nie in der gleichen Tasche auf, geht nicht zum Briefkasten, meidet öffentliche Verkehrsmittel, Kettencafeshops und Weihnachtsmärkte und trinkt täglich ein Gläschen Sagrotan. Bis März lässt sich das problemlos durchhalten.

 

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