Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (17. Juli 2016)
 
Christiano doloroso
 

   Ein Wort für die zurückliegende Woche? Affektöser Kontrollverlust vielleicht, oder posttraumatischer Emotionsfluor? Damit gaukeln wir analytisches Niveau vor und nähern uns gefällig dem Leser, der diesen Schwindel natürlich durchschaut. Dennoch hilft kühle Distanz, um all die Bilder weinender junger Männer auszuhalten, die ganz Europa überschwemmten. Die Endphase der Fussball-EM ertrank förmlich in einem Tränenmeer, womit zunächst niemand gerechnet hatte. Bei keinem der 870 Vorrundenspiele war es zu emotionalen Verwerfungen gekommen. Die Zuschauer grunzten behaglich angesichts des Nicht-Geschehens auf dem Platz, spülten Geschirr ab, kehrten zurück und hatten nichts verpasst, schliefen ein, gingen in irgendeine Verlängerung, telefonierten, verliebten sich im Internet, planten längst fällige Reparaturen im Haus und zählten mit blödem Gesichtausdruck Rückpässe und Fünferketten.



   Das hätte noch Jahre so weitergehen können - Pläne der Fifa gehen tatsächlich in diese Richtung -, doch dann war unversehens Schluss. Die Portugiesen weinten, Ronaldo (Cristiano doloroso) insbesondere vergoss die schönsten Tränen seit dem heiligen Laurentius, es weinten auch die Franzosen, nachdem die Tränen der Deutschen bereits die Gestade des Mittelmeers getränkt hatten. Der Riese Boateng zerfloss in Tränen, dick wie Kastanien, der kleine Griezmann schniefte bis in die entlegensten Departements hinein, auch die zerfurchte Physiognomie des Bundestrainers entliess Salziges, auf den Fanmeilen weinten Menschen, Tiere und Autos. Die Tränendrüsen der Nation arbeiteten unter Volllast, Tränensäcke waren in den Baumärkten ausverkauft. Deutschlands pH-Wert stieg auf 7,4, die nationale Viskosität Frankreichs überstieg die von nativem Olivenöl.



   Mitte der Woche hatte sich die Welt ausgeweint. Ermahnende Wortwolken ballten sich am Firmament zusammen "Löw muss jetzt ... Schweinsteiger muss auch ... Götze muss wissen ... muss jetzt alles neu ... wird man umdenken müssen ... muss ein Neuanfang ... kann es ein Weiter-so nicht geben ... muss jetzt die Verjüngung ... taktische Blamage ... Neueinrichtung ... Generationswechsel ... nur noch Deutsche ... jetzt schon ... und überhaupt ... Schluss ... aus."

   Dann kehrte Ruhe ein. Menschen gingen zögernd wieder auf die Strasse, blinzelten, fingerten Chips aus den Achselhöhlen und kickten gegen eine leere, säuerlich riechende Bierdose. Im Rinnstein liegt eine zerschlissene Nationalfahne. Das Gebrüll der Arenen sandte noch einige Spätechos in die Fussgängerzonen, der Mensch war still und genügsam und dachte sogar daran, eine Blume zu pflücken. "Die Welt braucht jetzt Frieden", sagte der Krakauer Kardinal Stanislaw Dziwisz. Er meinte den bevorstehenden Weltjugendtag. Dort werden viele junge Menschen in den Stadien zusammenkommen. Tränen? Vielleicht.

 

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