Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (19. März 2017)
 
Bei denen piept's wohl
 

   Es ist lange her, da war der Begriff des Opfers reserviert für kultische Handlungen und für bedauernswerte Menschen, denen tatsächlich übel mitgespielt wurde. Es bestand keine Verwechselungsgefahr, man unterschied zwischen Opfern und Tätern, zumindest in funktionierenden Demokratien und in Sonntagskrimis.

   Doch dank der vielen Orhans, Erdogans und Kaczynskis ist die Differenzierung heute eine vergessene Kulturtechnik geworden. Mittlerweise kann sich jeder als ein Opfer bezeichnen, auch ohne Abitur und Leidensnachweis. Opfer ist jetzt ein anerkannter Einbildungsberuf mit famosen Zukunftsaussichten.



   Über sein Leben als Opfer zu schwadronieren, kann nicht nur für populistische Politiker ungeheuer befreiend sein. So ist man als Anwohner des inzwischen weltberühmten, von Feinstaubnebeln umwölkten Stuttgarter Neckartors der Small-Talk-Star in jedem ICE-Grossabteil. Man muss lediglich hüstelnd darauf hinweisen, wo man wohnt, und man bekommt sofort auch ohne Platzkarte einen Sitzplatz angeboten. Erntet Mitleid von attraktiven "Zeit"-Abonnentinnen mit Bahncard-100, die einem die Russpartikel zärtlich von der Stirn tupfen. Mitreisende Ärzte zücken ihre Stethoskope, analysieren im Bordbistro bei einem Spätburgunder die fluoreszierenden Moosgrüntöne des abgehusteten Sputums und verhelfen einem zu gut dotierten Teilnahmeplätzen in internationalen Medizinstudien über Herzinsuffienz.

   Viele Mitbürger beneiden einen um diese lukrative Opferrolle, beispielsweise Anwohner von anderen, völlig bedeutungslosen Messstellen, die auch gern mal in der "Tagesschau" vorkommen wollen. So etwas geht natürlich gar nicht.



   Um seinen Status als Opfer zu sichern, hilfts es allerdings, wenn man als stilisiertes Opfer schummelt und erdoganisiert. Wenn man seine Story wie einen Weihnachtsbaum im Trump-Tower mit alternativen Glitzerfakten ausschmückt und vor sich herträgt. Und auch den einen oder anderen Nazivergleich einstreut, was immer passt. Je absurder der Vergleich und die Klage, desto glaubwürdiger. Man badet in Empathiewellen, wenn man erzählt, dass man bei Feinstaubalarm nur mit seinem Kanarienvogel das Haus verlässt wie einst die Bergarbeiter, welche die Tierchen als Warnvogel einsetzten. Hört man kein Zwitschern mehr, kehrt man um, macht einen Tag blau ("dieselfrei") und bestellt einen neuen Singvogel beim chinesischen Online-Händler.

   Pech nur, wenn man selbiges heuchelt und Vogelopferanwälte in der Nähe sind oder Fans von Recep Tayyip Erdogan, bei denen es machtergreifend piept. Dann eskaliert die Situation, wird man vom Opfer zum Nazi degradiert und muss den Zug schleunigst beim nächsten Halt mit Überstürzung verlassen. Und an allem ist wie immer die Bahn schuld. Merkel. Die Medien. Oder die Grünen. Brüssel. Oder diese verfluchten Nazis.

 

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