Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (08. September 2019)
 
Brechstange der Zuwendung
 

Wahlanalyse: Wir müssen den Menschen im Osten endlich zuhören, sagt die Politik. Notfalls, bis der Arzt kommt. Für die Betroffenen ist das aber kein Zuckerschlecken.



   Wer sich diese Woche melancholisch im Nacken kratzte und hinauf in den herbstlichen Himmel schaute, sah Scharen von Zugvögeln über sich hinwegziehen. Wildgänse und Graureiher kamen aus dem Land im Osten - dem Land, das immer neue Rätsel aufgibt. Dort gären offenbar Wut und Sauerkraut in den Gaststuben, Rentner schauen aus ihren Fenstern in die Vergangenheit und einmal am Tag hält der Bus.

   Noch hingen die Grillschwaden in der Luft, die volksnahe Politiker aufsteigen liessen, um eine Bratwurst lang mit dem Wähler in Kontakt zu kommen. Doch auch dieses kulinarische Golgatha erzeugte keinen Wahlerfolg, sondern nur hohe Cholesterinwerte. Ein hektisches Suchen setzt ein - nach Ursachen, Hinweisen, Handreichungen. Entgegen der Vogelflugroute machen sich Heerscharen von Soziologen, Ethnologen, Archäologen, Psychologen und Gerontologen auf den abenteuerlichen Weg in den Osten, um die beunruhigenden Wählerwanderungen analytisch zu erfassen. Sie pirschen sich im Dunkel der Nacht an die Eckkneipen heran, suchen an der Käsetheke das zwanglose Gespräch, lassen sich in die Spinde der Werkstätigen einschliessen und liegen unter den Betten privater Schlafzimmer.

   Von den meisten fehlt seitdem jede Spur, doch Konsequenzen - eindeutige und klare - müssen natürlich gezogen werden. Man werde den Menschen jetzt zuhören, heisst es. Für den Berufspolitiker ist das eine schier unlösbare Aufgabe. Er muss, anders als in einer TV-Runde unter Gleichgesinnten, minutenlang nichts, also wirklich nichts sagen, während sein Gegenüber klagt, lamentiert, selbstmitleidig vor sich hin brabbelt und verfassungsfeindliche Ideen aufblitzen lässt. Für Politiker der späten Bosbach-Altmaier-Schule eine abscheuliche Zumutung. Wie gerne würden sie die Satzfragmente ihres Kontrahenten mit zwei Sätzen zersägen und ins Lächerliche ziehen - stattdessen müssen sie zuhören, bis der Arzt kommt. Viele sind erschöpfter als nach einem zweitägigen Parteitag mit Führungsintrige. Sie leiden unter Weinkrämpfen, Desorientierung, Sprechblockaden, Depressionen und vollständiger Ermattung.



   Aber es hilft nichts. Auf die Bürger in den östlichen Landesteilen rollt die totale Verständigungsoffensive zu. Jeder Wutbürger zwischen Gera und Neuruppin wird gehört, bis ihm Hören und Sehen vergeht. Er darf über schlechte Strassen, lahmes Internet, Dürre und fehlende Frauen klagen und die Politik sagt sofortige Hilfe zu, verspricht, den einen und anderen Kreisverkehr zu bauen, verteilt Gutscheine für schnelles Internet, die im Jahr 2033 oder auch nicht eingelöst werden können, und lässt einen Aufsitzrasenmäher aus der Luft abwerfen. Viele Gemeinden sind, nachdem sie zwei- bis dreimal überrollt wurden, nicht mehr wiederzuerkennen. In den Gesichtern der Bewohner stehen Angst und Erschöpfung.

   Doch die Brechstange der Zuwendung zeitige Wirkung. Fast alle Bürger in den heimgesuchten Gemeinden versprachen, wieder ins Reich der Altparteien zurückzukehren. Aber nur unter der Bedingung, dass sich künftig kein Altpolitiker mehr in ihrem Dorf blicken lässt.
 

 

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