Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (03. November 2019)
 
Genossen im Folter-Parcours
 

Kandidaten: Es wird kalt in Deutschland. Da ist es gut, dass die SPD sich selbst und den Rest Deutschlands erwärmt. Dafür musste sie aber durch die Hölle gehen.



   Nach einem letzten Zuzwinkern des Sommers zieht ganz Deutschland die Nase hoch. Ölheizungen schicken einen russigen Gruss in die Atmosphäre, bevor sie von kommunalen Energiewächtern abgeschaltet und versiegelt werden. Wer wie früher zu Beginn der kühlen Jahreszeit seine alten Autoreifen im Komfortkamin verbrennt, wird vom Nachbarn angezeigt und muss zur Strafe in einer ungeheizten Volkshochschule drei Jahre lang Seminare über Feinstaub und Egomanie belegen. Wenn er seine steif gefrorenen Finger an einem Kaffeebecher aus Kunststoff auftauen will, wird ihm die Aufenthaltsgenehmigung für die städtischen Wärmestube entzogen. Der Betrieb von Autositzheizungen ist nur an ungeraden Tagen nach Vollmond erlaubt. Wer an irgendeinen überfüllten Strand fliegen will, wird von Klimaaktivisten in der Drehtür des Flughafen eingeschlossen.

   Deutschland kühlt ab - nur in der Berliner SPD-Zentrale herrscht eine animalische Hitze. Das Willy-Brandt-Haus erwärmt sich trotz einer Aussenisolierung der Solidaritätstufe sechs halb Berlin. Die Willy-Brandt-Statue im Foyer schwitzt, unter dem überwölbenden Glasdach ist der Klimawandel in seiner Endstufe zu beobachten. Dort entladen sich bei jeder Umfrage Wärmegewitter, eine ideologische Versteppung greift um sich, in den Waschräumen steht das Wasser bis zur Kevin-Kuhnert-Linie.

   Für die Partei selbst aber ist diese Erwärmung lebensrettend - angesichts des eisigen Umgang mit früheren Führungsfiguren. Wurden jene bei Erfolglosigkeit in einer sogenannten Nacht der langen Messer hinterrücks erdolcht und die sterblichen Überreste im Parteiarchiv tiefgefroren, umarmt die Basis jetzt ihre Führung, drückt sie bis zur Atemnot, reicht über Gräben die Hand, scheut sich nicht einmal, den amtierenden Finanzminister die Glatze zu küssen.



   Eingeleitet wurde diese Emotionalisierung durch die zurückliegende Kandidatenkür. Ein verlorener Haufen von Genossinnen und Genossen schleppte sich durch Deutschland, und warf sich, Bettelmönchen gleich, vor dem Parteivolk in den Staub. Die Live-Übertragung dieses modernen Golgathas der Basisdemokratie in TV und Internet stiess auf Entsetzen und löste die Forderung nach mehr Jugendschutz in den Medien aus. Die Kandidaten mussten an Ketten zu einem willkürlich gewählten Umfragehoch klettern, mit ideologischem Ballast an den Füssen über eine Fünf-Prozent-Hürde springen, in weniger als zehn Minuten eine Sozialwohnung mit S-Bahn-Anschluss bauen, mehrere Minuten für die Partei brennen und unter Wasser binnen Sekunden die Schuldenbremse lösen. Eine unbarmherzige Regie zwang sie dazu, stundenlang auf schmerzhaften Barhockern zu sitzen. Wer ohnmächtig wurde, war raus.

   Zeugen des Folter-Parcours erzählten, die fast unerträglichen Strapazen dieser Runden hätten die Partei am Ende doch mit sich selbst versöhnt und ihr ein fast menschliches Gesicht verliehen. Und tatsächlich: Im Darknet kursiert seitdem ein verschwommenes Bild eines warmherzigen lächelnden älteren Mannes, der offenbar Ralf Stegner ist. Fachleute sprechen von einem Wunder.
 

 

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