Dinge, so oder so

 

Die Dinge des Neuen Jahr 2020 (03. Januar 2020)
 
Niemand verzichtet auf gar nix
 

   Die Fussabdrücke im Teppich ähneln den tiefen Spuren eines Nilpferds vor einem Schlammloch. Die Dielen knirschen bei jedem Schritt wie bei einem Erdbeben. Das frisch gewucherte Hüftgold glänzt im Morgenlicht. Ernüchterung macht sich breit, Katerstimmung. Man entdeckt ein paar hartnäckige Fettflecken auf der Seele. Der Speck und der Dreck müssen jetzt weg, keine Frage. Selbstdisziplin braucht der Mensch und dann und wann eine Diät.



   Nach dem Aufwachen aus dem Weihnachtsbratendelirium schaut man alle Jahre wieder entsetzt um sich. Kein Schnee, kein Greta-Effekt, einfach nichts. Dafür Euro-5-Diesel-Fahrverbotsschilder, überall müde Tannennadeln, Plätzchenkrümel zwischen Sofakissen, Verpackungsschleifen im Feinstaubnebel und reichlich Böllermüll hinterm Haus bereits zwei Tage vor Sivesternacht. Offenbar macht niemand mehr Kehrwoche in dieser angeblichen Kehrwochenhauptstadt. In der Ferne jaulen Laubbläser, wahrscheinlich im Remstal.

   Und die Begegnungen mit den lieben Verwandten und Bekannten? Verliefen so mittelprächtig. Tanten, Cousinen, Freundinnen. Weiblicherweise ist niemand zufrieden mit sich. Voll der Druck. Die eine spritzt sich Botox, die andere plant chirurgische Schönheitseingriffe im osteuropäischen Ausland, wo es anscheinend günstiger geht. Und jemand ist schwanger, nur von wem, weiss keiner so genau. Was soll man sagen? War wieder ein Fest für den Einzelhandel. Bestimmt. Playstation statt Orangen, mehr Cool Water als Myrrheduft und Weihrauch. Bescherung ohne Bestpreisklausel. Man zählt seine Speckröllchen und gibt ihnen Namen, die das letzte Jahr nicht im Trend waren: Donald und Wladimir. Dann wird hektoliterweise Abführtee geschlürft oder in langen Schlangen vor den Kassen der grossen Einkaufstempel gewartet. "Kennen Sie den Weg zum Breuninger?", fragt ein mürrisch reinblickendes, nicht mehr ganz junges Paar am Charlottenplatz vor dem Einklang, dem gut sortierten Fachgeschäft für Klassik und Jazz. Ihre Taschen sind prall gefüllt, man bringt, dem Konsumgott huldigend, ungeliebte Überraschungen zurück. Danke sagen ist aber nicht ihr Ding.

   Das sinnfreie Umtauschen von Christkindl-Plunder allerdings schon. Es ist ein nachchristlicher Opferritual unseres Heuchelkulturkreises. Im Einklang ist es leider gähnend leer. Statt den Undankbaren den Weg zu weisen, hätte man das genervte Paar auf die kleinen Händler hinweisen sollen, die in den Innenstädten um Kunden und die Existenz kämpfen.

   Doch alle Wege führen in die brummende Shoppingmaill beziehungsweise unter die Breuninger-Kuppel im Doretheen-Quartier. Es spielt eine Silvester-Band flott auf, etwas, was man gleich vergisst und jedem trotzdem gefällt, irgendwie. Das Publikum wippt jedenfalls mit. Nach der Party ist vor dem Sale. Yeeeah.



   Und doch trügt der Schein. Niemand verzichtet auf gar nix. Auf dem Weg zur Markthalle meint man Menschen erkannt zu haben, die man schon lange nicht mehr gesehen hat. Sind sie es überhaupt? Wie heisst der noch mal? Ja, genau der Mann, hat der seit dem Abi zugelegt. Guck mal, das Doppelkinn. Dem schmeckts wohl.

   Nach Weihnachten bricht traditionell eine unheimliche Zeitphase an, die im Volksmund mit dem Ausdruck "zwischen den Jahren" bezeichnet wird. Für die meisten Normalsterblichen allerdings meint der Ausdruck die gehässigen Tage zwischen der Wintersonnenwende und Dreikönig. Man besucht einander, trifft auf andere Leute. Man mustert einander, man beneidet sich, man lästert. Und zieht Bilanz. Man fragt sich: Gibt es überhaupt ein würdevolles Leben für Männer nach vierzig? Ja, aber nur mit Reiswaffeln. Auf ein neues schlankeres Neues!
 

 

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