Viele meinen ja, man könne
durch ausgedehnte Telefonate mit den Liebsten diese coronöse
Krise besser meistern. Doch nach dem letzten Gespräch mit einer
nahen Verwandten sind Zweifel angebracht. Die Dame am anderen
Ende der Leitung ist älteren Jahrgangs, streng gottgläubig und
leider Hobby-Apokalyptikerin. Hobby-Apokalyptiker sind geübte
Wortverdreher und Faktenvernichter. Ihr täglich Brot sind dunkle
Vorahnungen, abstruse Verschwörungstheorien und Breaking News
direkt aus der Hölle. Dieses nervende Virus kommt denen wie
gerufen. Da helfen dann auch keine Statistiken mehr, keine halb
wissenschaftlichen Kurzvorträge über abgeflachte Kurven bei
Neuinfektionen. Nein, am Ende bleibt einem nur noch der Satz
im heissen Ohr kleben: "Junge, lass dir nichts vormachen.
Es ist hoffnungslos. Corona, das ist die Strafe Gottes."
Und aufgelegt. Prima. Telefonieren ist auch keine Lösung.

Was
jetzt? Auf der verzweifelten Suche nach Trost und Lebenssinn
landet man schliesslich, selbst als Ungläubiger, bei den üblichen
Verdächtigen. Man legt in seinem Homeoffice-Kerker Johann Sebastian
Bachs Matthäuspassion auf den Plattenteller und dreht bei der
Arie Nr. 47 etwas lauter auf: "Erbarme dich, mein Gott."
Wunderschön war's. Man schaut bekümmert aus dem ungeputzten
Fenster, blickt auf irgendeine Strasse im Stuttgarter Osten,
hört nur in der Ferne einen Laubbläser blöken. Die Uhr im Turm
der Friedenskirche zeigt eine falsche Zeit an, aber welche Uhrzeit
ist in diesen Tagen schon die richtige? Fünf vor zwölf? Dann
denkt man bei sich, dass 1944 die Friedenskirche bis auf den
Turm mit seinen fein gearbeiteten Apostelfiguren abgebrannt
ist, der sich immer noch in den wolkenlosen Himmel streckt,
wie zum Trotze. Es gibt noch Hoffnung, wir schaffen das schon
irgendwie.
Also macht man Dinge, die
einem guttun: Möglichst vor dem Schreiben dieser Kolumne keine
abgründigen Telefonate mit seltsamen Verwandten führen. Dafür
ausgiebig das Wetter studieren. Tauben auf dem Nachbardach bei
der Paarung zusehen. Die Haare wachsen lassen. Alle Spiegel
verhängen. Sein Testament aufsetzen. Staubmäuse jagen. Dreieinhalb
Liegestützen schaffen. Einen Knopf annähen und andere Handarbeiten
inkompetent erledigen. Schuhe putzen. Einen Reste-Eintopf kochen.
Zu Hause auch mal in einer Badehose rumlaufen. Jeden Tag ein
Gedicht auswendig lernen und wieder vergessen. Mal hinter den
Schrank nachschauen und sich gruseln. Sich von Virologen die
Welt erklären lassen. Noch einmal Bach hören.

Und
Klopapier besorgen, ganz wichtig, und zuhause zum bisherigen
Stapel einsortieren. Deswegen geht man frohgemut mit seinem
FFP3-Munddeckel hinaus in die ansteckende Welt, kommt aber nicht
weit. Kaum vor der Tür, wird man schon von einer mit einem Tuch
maskierten Frau gestellt, die völlig aufgebracht ist. "Woher
haben Sie die Maske?", fragt sie scharf. Ein Überbleibsel
von der letzten Renovierung, lautet die beschwichtigende Antwort.
Sie entschuldigt sich für ihren Tonfall und erklärt, dass sie
mit den Nerven am Ende sei, weil sie als Altenpflegerin auf
Schutzkleidung angewiesen sei, aber keine zur Verfügung stünde.
Und ständig höre man, dass sich irgendwelche Unmenschen am Leid
anderer bereicherten, Masken horteten, im Internet für Wucherpreise
weiterverkauften. Ein Skandel, ruft sie.
Vier
Masken bräuchte sie mindestens an einem Tag, sie selbst gehöre
nach einer überstandenen schweren Rückenoperation im Winter
ohnehin zu den Risikogruppen. Sie mache aber ihre Arbeit immer
noch gern, trotz Corona. Dann geht die forsche Dame weiter ihres
Weges, zum nächsten Hilfsbedürftigen, und das ohne Maske. Das
sin mal echte Probleme. Und genau wegen solcher Leute gibt es
immer noch Hoffnung. Die Apokalypse muss noch warten.
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