Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (13. September 2020)
 
Anschwellendes Geheul
 

Dinge der Woche: Endlich ertönen in Deutschland wieder die Sirenen und warnen vor allem Möglichen. Nicht auszudenken, wenn man sie auch noch gehört hätte.

   Diese Woche sahen sich die Älteren unter uns in die beruhigenden Zeiten des Kalten Krieges zurückversetzt, als die Welt noch aufgeräumt war und die Tage in träger Zufriedenheit verstrichen. Grundiert wurde dieser lethargische Gemütszustand von den regelmässig aufheulenden Sirenen, die damals jeden Demokraten daran erinnerten, dass drüben, im dunklen Osten, Straflager, Panzer und Diktatoren das Bild beherrschten. Das Land war stark und abwehrbereit, ein Gürtel von Supermärkten und Billig-Restaurants entlang der Ostgrenze sollten die Spitzen der gegnerischen Verbände abfangen und die Truppen mit Sonderangeboten, Bier aus Dosen und Gulasch ausser Gefecht setzen.



   Die Politik hat sich jetzt dieser Sirenen erinnert und sie an die neue Zeit angepasst. Ein bundesweiter Warntag soll künftig die Menschen ermahnen, Leichtsinn zu meiden, Mass und Abstand zu halten, argwöhnisch nach Osten zu blicken und jeden Tag frische Unterhosen anzuziehen.

   Die Signaltöne gehorchen einer genauen Dramaturgie, die wir hier noch einmal kursorisch darstellen. Zunächst versetzt ein anschwellender Ton die Menschen in nervöse Anspannung. Sein allmähliches Verklingen ist ein Trugschluss. Es folgen Staccatos und eine mixolydische Tonleiter, die klingt, als habe ein drogensüchtiger Jazz-Saxofonist in einem New Yorker Club einen richtig guten Tag gehabt. Sekunden später animiert ein humorloser Techno-Beat die Menschen zu einem ekstatischen Tanz auf dem Vulkan, schliesslich ertönt der Klagegesang eines Buckelwals, der jeden an die eigene Sterblichkeit erinnert, ein Marche funèbre der Katastrophenmusik.

   Die Politik zeigte sich mit der Wirkung zufrieden. Man habe mit den vorhandenen drei oder vier Sirenen mindestens 400 bis 500 Menschen erreicht. Da ansonsten Stille herrschte, wurde eine Panik vermieden. Allerdings stoppten viele Autofahrer bei Aufheulen der Sirenen nicht sofort, um sich in den Strassengraben zu werfen. Und anstatt in geordneter Formation die Notausgänge zu benutzen, rannten die Menschen durcheinander, kauften Toilettenpapier und umarmten zum letzten Mal Freunde und Partner. Es kam zu Schweissausbrüchen, Scheidungen und Demonstrationen von Esotherikern und Verschwörungstheoretikern, die hinter dem Sirenengeheul eine geheime Botschaft erkannt haben wollten. Wenn man die Töne rückwärts laufen lassen, sie anschliessend gegen das Licht halte und im Backofen bei 136 Grad zwei Stunden garen lasse, werde das Wort "Sauerteig" sichtbar. Was das bedeute, sei ja klar.



   Die Politik will aber am Sirenenalarm festhalten und bei Konjunktureinbrüchen, Abiturprüfungen und Verkehrstaus dröhnende Signale in den Äther blasen. Eine Abteilung im Innenministerium sei beauftragt, 400 Heultöne zu entwerfen, die für jeden Anlass geeignet sind. Der Schalldruck werde erhöht, um auch Jugendliche mit Kopfhörern zu erreichen und unerwünschte Demonstrationen aufzulösen. Das führe auch zum hochwillkommenden Zusammenbrechen alter Gebäude und Brücken, der ausgelöste Sanierungsschub werde die Wirtschaft beleben.

   So viel zunächst dazu, wir müssen Schluss machen - gerade ertönt die Feierabendsirene.
 

 

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